Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
seiner College-Dozentin, die ihn in angesagte Londoner Clubs und in die Freuden von hemmungslosem Sex- und Drogenkonsum einführt; andererseits fühlt er sich angezogen von dem religiösen Enthusiasmus und der asketischen Glaubensstrenge der muslimischen Bruderschaft in seinem Studentenwohnheim, besonders ihres charismatischenAnführers Riaz. Deren Versprechen einer rein muslimischen Identität betört ihn. Doch nicht minder verlockend findet er den Identitätsmix, die schillernde Hybridität, die er in dem androgynen US-Musiker Prince verkörpert sieht (der Roman ist nach dem 1994 veröffentlichten «Black Album» von Prince benannt). Shahids Dozentin, eine zeitgeistige Kultur- und Gender-Wissenschaftlerin, macht ihm am oszillierenden Image von Prince die Reize ethnischer Melange und des Spiels mit changierenden Geschlechterrollen schmackhaft: «Prince ist halb schwarz, halb weiÃ, halb Mann, halb Frau, mittelgroÃ, feminin, aber auch ein Macho.»
Lange schwankt Shahid zwischen diesen gegensätzlichen Lebensentwürfen. Verwundert stellt er fest, dass auch seine ganz weltlich und westlich erzogenen Cousins daheim in Pakistan derzeit einen ähnlichen «Fundamentalist Turn» durchmachen. «Während ihre Eltern geschmuggelten Whisky tranken und sich Videos aus England anschauten, trafen sich Shahids jugendliche Verwandte und Freunde freitags im Haus, um dann gemeinsam zum Gebet zu gehen. Der religiöse Enthusiasmus der jüngeren Generation und dessen enge Verknüpfung mit politischen Ideologien hatte Shahid ziemlich überrascht.»
Genau dieses Umkippen von Glaubenseifer in politischen Fanatismus macht schlieÃlich Shahids Schwanken ein Ende. Er sieht entgeistert zu, wie Riazâ Bruderschaft unter Johlen, Kreischen und Jubeln Salman Rushdies Roman anzündet, und denkt: «Wie engstirnig das war, wie unintelligent, wie ⦠peinlich all das war! Die Dummheit der ganzen Veranstaltung widerte ihn an. Er hatte mit diesen Leuten nichts mehr zu tun. Dazu brauchte er keine Entscheidung zu treffen: Seine Verbindung mit ihnen war zu Ende gewesen, als Riaz das Buch mit Benzin tränkte.»
Sein künftiger Kurs im Leben ist Shahid damit klar geworden: «Ich habâs satt, herumkommandiert zu werden, sei es von Riaz oder von Gott persönlich. Ich will mir keine Grenzen setzen lassen, wenn es so viel zu lernen, zu lesen und zu erfahren gibt.» Sprichtâs, und macht sich auf zum Prince-Konzert, für das seine Dozentin Karten besorgt hat.
Für einen gebildeten Studenten mit Migrationshintergrund wie Shahid sieht die Welt naturgemäà anders aus als für ungebildete Frauen,die, gefangen in den traditionellen weiblichen Rollenmustern des Subkontinents, als unterwürfige Gattinnen den ihnen zugewiesenen Ehemännern ins kalte England gefolgt sind. Frauen wie Nadeem Aslams Kaukab aus Pakistan oder wie Monica Alis Romanheldin Nazneen aus einem Sumpfdorf in Bangladesch. Mit achtzehn Jahren wird Nazneen 1985 von ihrer Familie an einen mehr als doppelt so alten bengalischen Mann verheiratet und zu ihm nach London ins Stadtviertel Tower Hamlets geschickt.
Dieser Ehemann Chanu erweist sich als ein rührend untüchtiger Möchtegern-Patriarch, GroÃsprecher, Träumer und Nichtsnutz voll komischer Selbsttäuschungen und ist hässlich wie ein Frosch. Nazneen sieht sich nun gefangen in einer engen Mietwohnung in einem der heruntergekommenen Wohnblocks, in dem schon mal eine verzweifelte Immigrantin aus dem zwölften Stockwerk springt. Sie kann kein Englisch, als sie ankommt, doch sie hat Kochen, Putzen und Gehorchen gelernt, und Chanu ist mit der arrangierten Ehe einigermaÃen zufrieden: «Ein Mädchen vom Land, völlig unverdorben.»
«Brick Lane» ist der erste Roman, der fast ausschlieÃlich das Leben bengalischer Frauen in «Banglatown» in den Fokus nimmt. Monica Ali, Jahrgang 1967, ist die Tochter eines bengalischen Vaters und einer englischen Mutter. Im Alter von drei Jahren kam sie mit den Eltern aus Dhaka nach Bolton in Nord-England, vertrieben vom Bürgerkrieg in Bangladesch. In ihrem Debütroman konzentriert sich Ali auf die minuziöse Darstellung der winzigen Emanzipationsschritte, mit denen Nazneen in der Fremde binnen siebzehn Jahren die klassische Frauenrolle allmählich umdefiniert und sich zum Subjekt ihres eigenen Lebens macht: «Im Alter von vierunddreiÃig Jahren, nachdem sie drei
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