Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Karim betrachtet und nur seine Möglichkeiten gesehen. Jetzt blickte sie erneut und sah, dass die Enttäuschungen seines Lebens, die ihn formen würden, sich erst noch ereignen mussten.»
Nazneen beschlieÃt zweierlei: Sie trennt sich von ihrem Liebhaber, und sie wird ihrem Ehemann nicht nach Dhaka folgen. Aus den Briefen ihrer daheimgebliebenen Schwester Hasina, die den ganzen Roman kontrapunktieren und Hasinas Abstieg von der Fron als Näherin in Dhakas Textilfabriken bis in die Prostitution markieren, weià Nazneen, dass ihr ländliches Bangladesch ein Sehnsuchtsort ist, der nur noch in der Erinnerung existiert.
In der letzten Szene des Romans sehen wir sie Schlittschuhe anziehen,im Begriff, gestützt von ihren Töchtern und ihrer besten Freundin, zum ersten Mal im Leben das «glitzernde, blendende, hinreiÃende Eis» eines Eislaufplatzes zu betreten. «Das Eis wirklich zu betreten â es schien nicht mehr wichtig. In Gedanken war sie schon dort.»
Ein Schlussbild, das sich einprägt und bleibt: Die ersten unsicheren Schritte der Migrantin auf trügerisch glattem Grund, auf völlig fremdem Boden. Vermutlich wird sie stürzen, und das nicht nur einmal, und sich wieder aufrappeln. Vielleicht wird sie es sogar schaffen, irgendwann sicher dahinzugleiten, fast ohne Bodenhaftung. Mehr ist im Moment nicht zu erwarten.
Erwähnte Bücher
Monica Ali «Brick Lane», Roman (Droemer Knaur 2004)
Nadeem Aslam «Atlas für verschollene Liebende», Roman (Rowohlt 2005)
Homi K. Bhabha «Die Verortung der Kultur», Aufsätze (Stauffenburg 2000)
Hanif Kureishi «Der Buddha aus der Vorstadt», Roman (Droemer Knaur 1992)
Hanif Kureishi «Das schwarze Album», Roman (Kindler 1995)
Hanif Kureishi «Mein Ohr an deinem Herzen. Erinnerungen an meinen Vater» (S. Fischer 2011)
Salman Rushdie «Mitternachtskinder», Roman (Piper 1983)
Salman Rushdie «Scham und Schande», Roman (Piper 1985)
Salman Rushdie «Die Satanischen Verse», Roman (Artikel 19 Verlag 1989)
Salman Rushdie «Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken 1981â1991» (Kindler 1992). Darin die Essays «Das neue Empire in GroÃbritannien» und «In gutem Glauben»
Salman Rushdie «Joseph Anton. Die Autobiografie» (C. Bertelsmann 2012)
Doug Saunders «Die neue Völkerwanderung â Arrival City» (Blessing 2011)
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Jenseits von Afrika
Die Fotografin und Autorin Taiye Selasi ist eine königliche Erscheinung: eine stolze afrikanische Schönheit mit der Aura einer Yoruba-Priesterin, hochgewachsen, mit schlanken GliedmaÃen und einem edlen Haupt voller dunkler Dreadlocks. So inszeniert sie sich in der Verlagswerbung. Man wird kaum fehlgehen, wenn man die Beschreibung der Heldin in Selasis Debütroman auch als eine Art Selbstporträt der Autorin liest. In der Heldin Taiwo ist die Autorin Taiye Selasi unschwer wiederzuerkennen, zumindest der äuÃeren Erscheinung nach: «Die Wimpern ein schwarzes Dickicht, die Wangenknochen gemeiÃelter Fels und Edelsteine als Augen, ihre rosaroten Lippen die gleiche Farbe wie das Innere eines Muschelhorns, unmöglich schön, ein unmögliches Mädchen.»
Die auÃerordentliche Schönheit der Heldin Taiwo und ihres Zwillingsbruders Kehinde, der gleichfalls wie ein Mädchen aussieht, «ein unmögliches, unmöglich schönes Mädchen», ist ein durchgängiges Motiv in Selasis Roman «Diese Dinge geschehen nicht einfach so». Das Aussehen der Zwillinge bestimmt ihr Auftreten und ihr Selbstverständnis; es prägt ihr Verhältnis zur Umwelt und erklärt auch ihre extreme Selbstbezogenheit â die beiden sind eine Klasse für sich. Und sie bilden ein geistig untrennbares Ganzes: «Zwei Hälften eines Geistes, der zu groà ist, um in einen Körper zu passen.» Das erinnert nicht ganz zufällig an das Zwillingspaar im Romanerstling «Der Gott der kleinen Dinge» von Arundhati Roy, die Taiye Selasi sehr verehrt.
In den Augen ihrer unscheinbaren kleinen Schwester Sadie ist Taiwo eine Gestalt von derart unerreichbarer Vollkommenheit, dass schon der Gedanke, mit ihr konkurrieren zu wollen, aussichtslos ist. Sadie kann die ältere Schwester nur hilflos und eifersüchtig anstaunen, ihre «Aura des Mysteriösen und der mühelosen Eleganz, eine Aura, wie sie nur Frauen haben, für die Schönheit eine Selbstverständlichkeit
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