Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
und bessere Lebensbedingungen. Die Ankunftsstadt «Banglatown», die einmal als Ort des Verbrechens, des Drogenhandels, der Rassenkrawalle und desreligiösen Extremismus verschrien war, ist seit einigen Jahren auf dem Weg zur Gentrifizierung. Vor allem Spitalsfield und Brick Lane haben sich «bei den wohlhabenden Briten zu einer beliebten Attraktion für Restaurant- und Galeriebesuche und zu einer Wohnkolonie für Künstler entwickelt», stellt Doug Saunders fest.
Brick Lane galt seit den 1970er Jahren als Synonym für bengalische Massenquartiere, in denen Frauen als ausgebeutete Heimarbeiterinnen für die britische Textilindustrie rackerten, unsichtbar für die Augen der Gewerkschaften, während ihre Männer als Niedriglöhner â Köche, Kellner, Automechaniker â schufteten. In diesem Milieu siedelt Monica Ali ihren bemerkenswerten Debütroman «Brick Lane» an, der 2003 erschien.
Brick Lane und «Banglatown» sind wie «Dasht-e-Tanhaii» transitorisches Gebiet, eine zeitweilige Haltezone für Immigranten vom Subkontinent, die noch nicht völlig in England angekommen und heimisch geworden sind und deshalb ängstlich nach rückwärts leben. Im Kopf und im Herzen sind sie noch in Dhaka, in Karachi oder in Lahore, nicht in London. Ihre Lebensart wird von ihrer Vergangenheit und der ihrer Eltern bestimmt, und an diesen Halt klammern sie sich in ihrer sozialen und kulturellen Entwurzelung und Entfremdung. Nur langsam beginnen sie die Zukunft zu ergreifen und sich von verbrauchten Billigjobbern zu Verbrauchern, zu Konsumenten zu wandeln. Monica Ali und Nadeem Aslam situieren ihre Romane genau in dieser Wandlungsphase der jeweiligen Zuwandererenklaven.
Die Bewohner der überfüllten Slums von Brick Lane mussten bald auch als Zielscheibe für die rassistischen Attacken der «British National Front» herhalten, erst recht, nachdem Margaret Thatcher 1978 ihr «Verständnis» für diejenigen ihrer englischen Landsleute ausgedrückt hatte, die sich von Commonwealth-Immigranten «überschwemmt» fühlten. Es überrascht nicht, dass dies von rechtsradikalen Schlägertrupps als Freibrief für Ãbergriffe nicht nur gegen Bangladeschis verstanden wurde. Als erste bedrohliche MaÃnahme verlegte die «National Front» ihr Hauptquartier von West-London in die Nähe der Brick Lane: Von hier aus lieÃen sich Rassenunruhen gegen die unerwünschten Nachbarn leichter provozieren.
Diese Feindseligkeiten marodierender Banden veranlassten wiederum die bengalischen Jugendlichen des Viertels, sich zu Gangs zusammenzuschlieÃen, um das zu verteidigen, was sie inzwischen als ihr Territorium erachteten. Ihren Eltern, der ersten Einwanderergeneration vom Subkontinent, warfen sie vor, sich viel zu passiv und anpasserisch verhalten zu haben: Jetzt gelte es, sich zu wehren. In diese Revierkämpfe mischten sich schlieÃlich auch lokale Mullahs mit ihren fundamentalistischen Appellen ein, und bald zeigte das bei den jungen Männern Wirkung: Sie wurden glühendere Muslime, als ihre Eltern je gewesen waren. In seinem Roman «Das schwarze Album» (1995) macht Hanif Kureishi die zunehmende Islamisierung der zweiten Einwanderergeneration vom Subkontinent zu seinem Thema. Er erzählt, wie ein junger pakistanischer Immigrantensohn in den Bann einer Gruppe strenggläubiger Fundamentalisten gerät und seine religiösen Wurzeln wiederentdeckt â ganz im Gegensatz zur eher säkularen und anpassungsbeflissenen Elterngeneration.
«Das schwarze Album» ist ein Campus-Roman, spielt in den 1980er Jahren an einem unbedeutenden Londoner College unter Studenten aus mancherlei sozial benachteiligten Minderheiten und kulminiert 1989 in dem Streit unter den britischen Muslimen um Salman Rushdies Roman «Die Satanischen Verse». Ein Exemplar des Romans wird am Ende von Muslim-Aktivisten auf dem College-Gelände öffentlich verbrannt â ein Vorgang, der dem Protagonisten des Romans, dem Studenten Shahid, die Augen öffnet und ihm nach langem Schwanken seine Prioritäten klarmacht.
Shahid ist der Sohn pakistanischer Zuwanderer, die es zu einigem Wohlstand gebracht haben und in einer Londoner Vorstadt ein gut gehendes Reisebüro betreiben. Er fühlt sich am College zerrissen zwischen drei widerstreitenden Einflussfiguren und den konträren Werten, für die sie stehen. Einerseits fasziniert ihn die Libertinage
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