Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Kinder bekommen hatte und ihr eins wieder genommen worden war, als sie einen zu nichts zu gebrauchenden Ehemann hatte und ihr vom Schicksal ein junger, fordernder Liebhaber zugewiesen worden war, als sie zum ersten Mal nicht mehr abwarten konnte, was ihr das Schicksal bringen würde, sondern es selbst in die Hand nehmen musste, war sie über ihre eigene Handlungsweise ebenso bestürzt wie ein Neugeborenes, das sich mit geballten Fäusten auf die eigenen Augen geschlagen hatte.»
Für Kaukab wie für Nazneen ist die Nahrungszubereitung für die Familie die Hauptbeschäftigung â zugleich Dauer-Fron, angewandte Liebesarbeit und sinnlicher Heimatersatz. So engstirnig und religiös verbohrt Nadeem Aslam seine Protagonistin Kaukab auch zeichnet, so berührend ist doch der hektische Atz-Trieb, der sich in ihren Kochexzessen Bahn bricht und sich als verzweifeltes Liebeswerben um die Zuneigung ihrer Kinder und den Zusammenhalt ihrer Familie zu erkennen gibt. Wenn Kaukab bei einem Familientreffen unzählige Gerichte auftischt â verschiedene Currys, Chappatis, Pilau-Reis, gefüllte Karelas, Shami-Kebabs, Vermicelli mit essbarem Blattgold â, dann steht hinter dieser aufgenötigten Speise-Orgie der unausgesprochene Wunsch der Köchin, die Familie möge sich gemeinsam die alte Heimat Pakistan einverleiben. Vergeblich. Die Familie ist unwiderruflich zerfallen, die Kinder hassen ihre Mutter und flüchten vor ihr. «Ich weiÃ, dass ihr alle mich für die schlimmste Frau der Welt haltet», stellt Kaukab am Ende fest, während sich die Tafel unter lauter unverzehrten Gerichten biegt. «Anscheinend kann ich nichts tun, ohne jemandem Schmerzen zuzufügen.» Sie versucht, sich zu vergiften, doch auch das misslingt.
Anders als die unglückliche Kaukab ist ihre jüngere Leidensgenossin Nazneen durch die Umstände gezwungen, sich von der missachteten Familien-Köchin zur eigentlichen Familien-Ernährerin zu mausern: Als Chanu seinen Job verliert, muss Nazneen den Familienunterhalt sichern, indem sie in Akkordarbeit daheim Klamotten näht. So öffnet sie sich dem Verkehr mit der Welt auÃerhalb der Familie, so gewinnt sie Selbstbewusstsein, und so erwirbt sie den Respekt ihrer Kinder.
Monica Ali verschreibt ihrer Heldin einen sich graduell erweiternden Aktionsradius: Der Gelderwerb führt Nazneen zum Welterwerb. Die Näharbeit bringt sie auch in Kontakt mit einem nach Limonen duftenden jungen Bengalen namens Karim, der ihr aus dem Sweatshop seines Onkels groÃe Ballen von Jeans und Westen zum Nähen anliefert. Der junge Mann entpuppt sich als einer der muslimischen Aktivisten von Brick Lane und wird schlieÃlich Nazneens Liebhaber.
Erstmals nimmt Nazneen Notiz von dem, was um sie herum politisch vorgeht, etwa von den Rassenkrawallen, die von den Schlägernder «National Front» in etlichen asiatischen Enklaven des Landes, aber auch in ihrem eigenen Viertel angezettelt werden und im Gegenzug die lokale Selbstschutzgruppe der «Bengal Tigers» auf den Plan rufen. Zum ersten Mal liest sie die Flugblätter und geht zu Demonstrationen, und in den Versammlungen der «Bengal Tigers» lernt sie, dass es innerhalb der muslimischen Aktivisten Fraktionskämpfe zwischen Militanten und Moderaten gibt. Junge Mädchen in Hijab und Jeans und junge Männer in Punjabi-Pyjamas und Fleece-Westen streiten darüber, ob sie sich dem globalen Jihad anschlieÃen oder sich eher gegen lokale Ungerechtigkeiten und Ãbergriffe wehren sollten.
Anders als Nadeem Aslam, der die rassistischen Ausschreitungen gegen asiatische Zuwanderer seit den 1970er Jahren aus seinem «Atlas für verschollene Liebende» völlig ausblendet, vergisst Monica Ali bei ihren leichthändigen Figuren-Zeichnungen nie, auch den politischen Hintergrund zu schattieren. Die Hoffnungen und Enttäuschungen ihrer Protagonisten werden immer mit der jeweiligen politischen Lage verrechnet. Dass ihr Roman von unterschiedlich glückenden Integrationsversuchen der ersten Generation von Armutsmigranten handelt, verliert die Autorin nie aus dem Blick.
Monica Alis Heldin erlebt mit, wie ihr Ehemann Chanu in all seinen Integrationsträumen scheitert und schlieÃlich geschlagen nach Dhaka zurückkehrt. Sie erkennt aber auch, dass die Strategien ihres Liebhabers Karim, in London Fuà zu fassen, nicht viel tragfähiger sein dürften als die ihres Ehemanns: «Sie hatte
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