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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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Mariam in die USA geflohen, drei Jahre nach dem Sturz von Kaiser Haile Selassie. Mengestu wuchs in der Kleinstadt Peoria, Illinois, und in den Vororten von Chicago auf, wo sein Vater einen Botendienst betrieb. Er studierte Literatur an der
Georgetown
und der
Columbia University
und unterrichtete
Creative Writing
in Georgetown. Als Halbwüchsiger in Illinois fühlte er sich recht verloren: «An der High School wünschte ich mir sehnlichst eineIdentität», sagt Mengestu. «Ich wusste, ich würde niemals schwarz genug sein an dieser rein weißen katholischen Schule. Also begann ich mich mit Äthiopien zu beschäftigen.»
    Dinaw Mengestus Roman erzählt vom Nicht-ankommen-Können. Seine drei Helden haben das Rätsel der Ankunft nicht gelöst. Sie haben ein gebrochenes, misstrauisches und skeptisches Verhältnis zu Amerika. Ihre Afrika-Gespräche zeigen, wie sehr ihnen, bei allem Spott über den Kontinent, ihre Herkunft noch nachhängt. Manchmal liebäugelt der eine oder der andere mit dem Gedanken einer Rückkehr nach Afrika, auch wenn ihnen bewusst ist, dass dieser Kontinent «von Staatsstreichen und greisen Tyrannen zugrunde gerichtet wird», auch wenn sie wissen, «dass der Ort, an den man zurückkehrt, niemals derselbe sein kann, den man verlassen hat». Sie kennen den abwesenden, verträumten Ausdruck auf den Gesichtern so vieler Immigranten, wenn sie davon sprechen, in die Länder zurückzukehren, aus denen sie gekommen sind – und tragen doch, bis auf Kenneth, den gleichen Ausdruck selbst im Gesicht.
    Kenneth ist der Einzige der drei, der keinesfalls zurückkehren möchte. In seinen Augen ist ganz Afrika «ein Kontinent voll armer Analphabeten, die in Slums sterben». Kenneth kommt von weiter unten und hat es weiter nach oben geschafft als seine Kumpel. Josephs Vater war kongolesischer Geschäftsmann, der Vater von Stephanos äthiopischer Anwalt. Beide Söhne, der Kellner und der Gemischtwarenhändler, haben sich in Amerika verschlechtert, was ihren sozialen Status angeht. Kenneth hingegen hat es als Sohn eines Analphabeten aus einem Slum in Nairobi in den USA zum Ingenieur gebracht – und das ist eine Erfolgsgeschichte, an der er, allen Einschränkungen zum Trotz, unbedingt festhalten will.
    Dennoch gibt es Tage, an denen alle drei Amerika hassen. Jeder von ihnen hat «schon so viel Spott und Erniedrigung über sich ergehen lassen müssen, dass es für mehr als ein Menschenleben reicht». Und dann gibt es wieder andere Tage, an denen sie achselzuckend denken: «Amerika ist doch ein wunderbares Land. Es hat viel zu bieten. Der Sprit ist billig. Hier lässt es sich gut leben. Es könnte schlimmer sein.»
    Stephanos mit seinem schlecht gehenden Laden führt von den dreien die prekärste Existenz. Er hat sich den Logan Circle als Standort ausgesucht, weil dieser in einem maroden Farbigen-Viertel lag, das zu ihm zu passen schien. Einen höheren Anspruch mochte er sich nicht zutrauen. Doch nun greift die Stadterneuerung auch nach dem Logan Circle. Neuerdings wandelt sich der Platz zur begehrten Wohngegend; eben hat nebenan die erste weiße Amerikanerin ein Haus gekauft, Judith McMasterson, und lässt es teuer herrichten.
    Zaghaft und voller Selbstzweifel beginnt sich Stephanos mit Judith und ihrer kleinen Tochter Naomi anzufreunden, deren Vater ein Gastprofessor aus Mauretanien ist. Doch für eine Liebesbeziehung sind die Hürden zu hoch – ökonomisch, ethnisch, persönlich. Stephanos quält das Bewusstsein, mit dem abwesenden Mauretanier nicht mithalten und Judith kein adäquater Partner sein zu können. Ihre Freundschaft zerbricht an Klassenunterschieden und ethnischen wie kulturellen Missverständnissen. Über das Gefühl von Scham und Erniedrigung kommt Stephanos nicht hinweg. «Unsere Komplexe wiegen zu schwer und stecken zu tief in uns, als dass wir sie so einfach abschütteln könnten», denkt er resigniert.
    Stephanos ist ein sanftmütiger, mutloser und entwurzelter Mann ohne verlässliches Gefühl für die eigene Identität. Er lässt sich treiben. Wenn er durch die Straßen von Washington streift, geht er immer zugleich auch durch die schattenhaft erinnerten Straßen von Addis Abeba. Man könnte seine Lethargie als leisen Trotz deuten, als Widersetzlichkeit gegen die amerikanische Ideologie des Vorwärtskommens, gegen das Credo amerikanischer

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