Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Roman spielt in den Jahren 2006/2007 â also in einer transitorischen Zwischenzeit:
Nine Eleven
und der Irak-Krieg bilden das beständige Hintergrundrauschen im Bewusstsein des Helden, doch die Finanzkrise, die Wahl Präsident Obamas und die Unruhen in der arabischen Welt stehen noch an, liegen noch in der Zukunft. Eine unbewusste Stimmung des Wartens und der Unsicherheit imprägniert den Roman und das Lebensgefühl des ebenso wachsamen wie melancholischen Protagonisten.
Auf den ersten Blick scheint Julius ein ähnlich einsamer, frierender und entfremdeter Flaneur wie Dinaw Mengestus Stephanos auf seinen Streifzügen durch die Abwrack-Viertel von Washington oder wie die Ich-Erzähler J. M. Coetzees und V. S. Naipauls auf ihren Irrwegen durch das kalte London. Doch bei genauerem Hinschauen bemerkt man dieUnterschiede, denn anders als jenen Migranten stehen dem umfassend gebildeten Julius alle Kulturangebote der Metropole ganz selbstverständlich zur Verfügung. Seine New Yorker Stadtspaziergänge umfassen Besuche in Konzerthallen, Galerien und Museen, und er erweist sich als wählerischer und höchst kenntnisreicher Kulturkonsument.
In seinem Bewusstsein überlagern sich ständig die Erinnerungen an die nigerianische Schulzeit mit ihren Bildungs- und Lektüre-Erlebnissen, die ihn als hoch sensiblen und ästhetisch wie philosophisch verfeinerten Geist ausweisen. Auf Lektüre-Eindrücke von Roland Barthes, Tahar Ben Jelloun oder Walter Benjamin kann er ebenso souverän zurückgreifen wie auf die Kenntnis der abendländischen Kunst und Malerei sowie des klassischen Musikrepertoires von Henry Purcell bis Peter Maxwell Davis. Gustav Mahlers «Lied von der Erde» bildet beinahe einen Cantus firmus in den Reflexionen dieses Spaziergängers.
Richtig ist: Auch Julius ist vereinsamt. Seine Freundin hat mit ihm Schluss gemacht und ist nach Kalifornien gezogen, und auÃer zu seinem greisen japanischen Professor Saito hat er nur wenige Sozialkontakte auÃerhalb seines Arbeitsplatzes, des
Presbyterian Hospital.
Aufmerksam, doch auch fremd wandert er nach Dienstschluss durch die Stadt, im Gefühl, nirgends ganz zugehörig zu sein. In seiner Kindheit in Lagos fühlte er sich wegen seiner helleren Hautfarbe nicht zugehörig, und auch in New York mit seinen doch unendlichen hybriden Mischungen spielt das Bewusstsein seiner Hautfarbe eine gröÃere Rolle, als Julius lieb ist. So bemerkt er, dass er der einzige Nicht-WeiÃe in der Carnegie Hall ist, der Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern bei einer Aufführung von Mahlers Neunter Symphonie lauscht â und es ist ihm ärgerlich, dass ihm das überhaupt auffällt.
Julius besitzt ein feines Gespür für die Geschichten und Schichtungen New Yorks, die einander überlagern, ohne einander auszulöschen. Er weiÃ, dass der Boden unter seinen FüÃen zahllose darunter liegende Schichten birgt. Die Stadt erscheint dem Spaziergänger wie ein Palimpsest, das «beschrieben, ausradiert und erneut beschrieben» wird; er betrachtet sie als immer wieder neu überschriebenen Raum, in dem die archäologischen Zeitschichten lesbar werden. Man braucht an der Oberfläche nur zu kratzen, um die tieferen Schichten zu entdecken.
Unter dem Asphalt liegen die Pfade der Ureinwohner, die hier lebten, lange, ehe Kolumbus überhaupt lossegelte. Unter dem Asphalt liegt auch Amerikas verdrängte Kolonialgeschichte. Zufällig stöÃt Julius nahe der Wall Street auf ein Denkmal für einen Sklavenfriedhof. An die 20.000 Schwarze liegen hier begraben, ehe der Friedhof vergessen wurde und unter Bürogebäuden, Läden und Drogeriemärkten verschwand.
Seine ziellosen abendlichen Stadtwanderungen führen Julius zu allerhand Zufallsbegegnungen mit Menschen aus allen möglichen Weltgegenden. Zu den Figuren, die Juliusâ Wege kreuzen, zählen etwa ein haitianischer Schuhputzer, ein schwarzer Taxifahrer, ein schwarzer Museumswärter, aber auch ein illegaler Immigrant aus Liberia, den er in Queens in der Abschiebehaft besucht und dessen Lebensgeschichte er sich erzählen lässt.
Die wichtigste Begegnung hat Julius während seines Weihnachtsurlaubs, den er aus einem plötzlichen Impuls heraus in Brüssel zu verbringen beschlieÃt. Die Brüssel-Passagen sind der intellektuelle und diskursive Höhepunkt des Romans, und Brüssel mit seiner bedrohlichen
Weitere Kostenlose Bücher