Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Atomkraftwerk, wo die Techniker die in die Jahre gekommene Anlage überwachen – geplant ist, 300 Kilometer von hier und ausgerechnet in der erdbebengefährdeten Zone von Jaitapur ein neues zu bauen. Es soll das größte AKW der Welt werden. Gearbeitet wird auch noch im Pharmaunternehmen Cipla, wo Experimente für neue Generika-Medikamente laufen – der promovierte Chemiker und Firmenchef Yusuf Hamied ist so etwas wie der Robin Hood der Branche und Schrecken der amerikanischen und europäischen Pharmakonzerne: Er zerlegt die nicht mehr von Patenten geschützten westlichen Medikamente in ihre Bestandteile und bietet dann seinen Landsleuten ein neues Produkt – etwa zur Aidsbekämpfung – für einen Bruchteil des gängigen Preises an. Gearbeitet wird auch noch in Navi-Bombay, der Satellitenstadt am Ostufer des Thane Creek auf dem Festland, wo, durch zwei Brücken mit dem Zentrum verbunden, immer neue Industriebetriebe und mäßig attraktive Appartementblöcke aus dem Boden gestampft werden. Und auch in einigen wenigen Büros ist noch Licht, beispielsweise bei Sandeep Aneja. Der Mittdreißiger, in Bombay geboren und Absolvent der Stanford University, hat einen Private Equity Fund aufgelegt, der in Privatschulen investieren soll – der Mann steht für einen neuen Trend in Bombay: Er hat einige Jahre in den USA gelebt und könnte auch dort ein erfolgreiches Business aufziehen, doch er verspricht sich wie so mancher andere Indien-Rückkehrer größere Geschäftschancen in der boomenden Heimat. Halb drei, das heißt Augenreiben, gegen die Müdigkeit ankämpfen, auch für den dynamischen Jung-Unternehmer Aneja. Ein Glück, dass es die Kaffeemaschine gibt.
Die meisten Nachtschwärmer zieht es nun doch nach Hause. Sie zwängen sich in ihre Autos. Sie suchen nach Taxis. Sie umgehen mit geübten Schritten die Menschen, die sich auf den Trottoirs und unter den Brücken in ihre Plastikplanen gehüllt zum Schlafen hingelegt haben. Sie alle trennt viel, aber sie verbindet auch einiges: Bombay ist ihr Magnet, ihre Hoffnung, ihr Trainingslager für eine bessere Zukunft. Die meisten hier sind Fremde, und Fremde sind anpassungsfähig und veränderungsbereit. Die Stadt lebt nicht von Tradition, sondern von dem Drive und den Träumen ihrer Bewohner. Sie stößt viele ab, aber sie weist keinen zurück. Deshalb gehört sie niemandem – und allen.
Bombay kann sich keine Ruhepause gönnen, oder wenn, dann nur eine ganz kurze. Sagen wir: 55 Minuten. Der letzte Zug von der Victoria Station fährt um 2 : 45 Uhr. Der erste um 3 : 40 Uhr.
2 SCHANGHAI
Das Labor der Zukunft
Die Großen der westlichen Welt haben sie beschrieben, bespielt, besungen wie kaum eine andere. Aldous Huxley, der Autor der Schönen neuen Welt , war von dieser Stadt dermaßen gefesselt, dass er formulierte: »In keinem anderen Ort könnte ich mir einen solchen Morast üppig verflochtenen Lebens vorstellen.« Marlene Dietrich hauchte mit ihrer erotisch tiefen Stimme in Josef von Sternbergs Filmklassiker Shanghai Express : »Es brauchte mehr als einen Mann, bis man mich Shanghai Lily nannte.« Und Mick Jagger schwärmte von den fremdartigen, arbeitsamen Mädchen »in a Shanghai Noodle Factory«. Sie alle fühlten sich offensichtlich magisch angezogen, zwangsrekrutiert – »schanghait« sozusagen. Auch dieser Ausdruck spricht doch für die Stadt: Gibt es irgendeine andere, die aus ihrem Namen ein Verb gemacht hätte, ein Wort, das es in die Umgangssprache schaffte, als Synonym für »jemanden gewaltsam zu etwas verpflichten«?
Die Geschichte dieser Region kennt wenig Gewissheiten. Vielleicht wurde hier schon vor 6000 Jahren gesiedelt, während der legendären Ära der Majiabang. Sicher ist nur: Im Mündungsdelta des großen Stroms Jangtse, am Huangpu-Fluss und nahe des Ozeans gelegen, ließ sich der Lebensunterhalt relativ leicht bestreiten. Der Sumpf war Segen und Fluch dieses Ortes, machte ihn fruchtbar und fischreich. Schanghai: eine Sumpfblüte, im wahrsten Sinn des Wortes wie in seiner übertragenen Bedeutung. Immer schon war sie von allen begehrt, umkämpft, der große Preis. Ein großes, attraktives Hinterland, vernetzt durch das System der kaiserlichen Kanäle, machte die Hafenstadt attraktiv nicht nur für heimische Händler, sondern bald auch für Piraten aller Länder. Die Japaner waren die Ersten, viele sollten noch folgen. 1264 wurde die »Stadt überm Meer« erstmals in den Schriften genannt. Chronisten konstatierten zwei Jahrhunderte später: »Sie ist
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