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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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Shivaji Park und Thackeray amüsierte sich köstlich, weil er gerade wieder so ziemlich alle gegen sich aufgebracht und gegeneinander ausgespielt hatte: die kommunistische »Pest«, wie er die Linken nannte, die »faulen Südinder«, den »muslimischen Dreck«. Er spielte selbstverliebt an der übergroßen Sonnenbrille herum, hinter der er immer seine Augen verbarg, und sagte maliziös lächelnd Sätze wie diesen: »Sie sind Deutscher – gratuliere! Ich mochte zwar nicht alles, was Hitler mit den Juden gemacht hat. Aber mein Gott, bewundere ich den Führer für sein Durchgreifen, seinen Mut, seine Entschlossenheit! So einen bräuchten auch wir hier.« Am nächsten Tag nahm er mich zu einer Rede in den Slum mit, bei der er Gift und Galle gegen die »Feiglinge der indischen Politik« wetterte und fragte: »Wollt ihr euch alle von den Muslimen überrollen und eure Pimmel beschneiden lassen?« Für ihn zählten nur Menschen aus seiner Maharashtra-Heimat, die »Söhne unserer Erde«. Für die, so rief der begnadete Redner und ehemalige Karikaturist in die brodelnde Menge, stünde nur einer ein. Seine Partei, die »Armee Shivas«. Tiger nannten ihn seine Bewunderer, ein Tiger war auch das Parteiabzeichen.
    Thackeray war kein Mann, der sich in vorderster Linie die Hände schmutzig machte, er wollte nie ein politisches Amt: Er war ein Tiger auf Abruf, zog im Hintergrund die Fäden, ließ Politiker wie ferngesteuert aussehen. Zweimal gewann er mit seiner Shiv Sena genug Stimmen, um über die Regierung des Bundesstaats und den Stadtrat die Geschicke Bombays zu kontrollieren. Dass er sein hinduistisches Klientel zu Mord und Brandschatzung aufhetzte, wurde bei den schlimmsten Unruhen Anfang der Neunzigerjahre offensichtlich. Und es wurde durch einen Richterspruch sogar amtlich. Aber Thackeray kümmerte das nicht: »Ich pisse auf das Urteil, die meisten Juristen sind nur lästige Ratten.« Mit seinen blendenden Beziehungen zu höchsten Polizeioffizieren und Bollywood-Größen kam der Charismatische immer davon – er war politisch ein Unberührbarer. Nur gegen seinen körperlichen Verfall und die »Schwächen« seiner Verwandtschaft konnte er nichts ausrichten. Sein Sohn Uddhav übernahm die Shiv Sena, erwies sich aber als politisches Leichtgewicht; sein Neffe gründete eine eigene Hindu-Splitterpartei. Die Shiv Sena verlor in den späten Neunzigerjahren an Einfluss – der Zuzug nach Bombay aus allen Landesteilen machte aus einer Mehrheit von Maharashtrianern eine Minderheit, die heute allenfalls noch ein Drittel der Bevölkerung ausmacht. Die besseren Chancen der Slumbewohner und die Globalisierung schmälerten Thackerays Einfluss zusätzlich.
    Am 12. November 2012 starb der selbst ernannte Tiger von Mumbai mit 75 Jahren. Dass er die offizielle Umbenennung der Stadt durchgesetzt hat, könnte sein einziges wesentliches Vermächtnis bleiben. Man trug ihn, aufgebahrt in seinem traditionellen weißen Hindu-Gewand und mit Sonnenbrille, durch die Straßen – Bal Thackeray bekam tatsächlich ein Staatsbegräbnis, und manchem aufgeklärten Inder muss es so vorgekommen sein, als hätte im demokratischen Deutschland Joseph Goebbels ein Staatsbegräbnis erhalten. Aber es waren wohl vor allem Neugierige, die dem Mann auf seinem letzten Weg begleiteten. Und viele Bombayer mögen auch gedacht haben: So wird eine Ära begraben. Eine Ära des Unfriedens, der Hetze, der Vorurteile geht Gott sei Dank und hoffentlich für immer zu Ende.
    Mitternacht in Bombay. Ausgehzeit. Das Kino ist der große Gleichmacher zwischen den Schichten. Eine Einladung zum Film ist bei den Reichen, bei der Mittelklasse, bei den (noch) Armen der übliche Annäherungsversuch heranwachsender Männer ans andere Geschlecht; für viele Mädchen, von den Eltern streng überwacht, liefert Bollywood auch eine Art Anfängerkurs im Flirten. Gemeinsam genießen die jungen Leute für drei Stunden ein Leben, aus dem die langweiligen Alltagsszenen herausgeschnitten sind. In dem es um Existenzielles geht, Heldentum, Liebeserfolge gegen alle Wahrscheinlichkeiten. Viele unterlaufen so die Vorstellungen ihrer Eltern, sie müssten die Partner ihrer Kinder bestimmen – noch immer sind über die Hälfte aller Ehen in Bombay arrangiert. Aber selbst bei diesen von Familien oder Ehe-Instituten zusammengeführten Paaren gilt es inzwischen als üblich, sich vor einer Festlegung kennenzulernen. Und wer sich etwa nach einem Kinobesuch gar nicht vom vorgesehenen Partner angezogen fühlt, darf

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