Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Frühjahr 1977 – verdanke ich dem damaligen Botschafter Erwin Wickert, dem Vater des späteren deutschen Fernsehmoderators Ulrich Wickert. Der Diplomat war hoch angesehen in der Volksrepublik, er sprach fließend Mandarin und hatte sich mit einer wissenschaftlichen Arbeit über die Taiping-Revolution (1850‒1867) einen hervorragenden Namen gemacht; er galt als Freund des chinesischen Volkes. Der Grandseigneur, bei seinen Botschaftsangehörigen wegen seiner umfassenden Kenntnisse ebenso verehrt wie wegen seiner Ansprüche gefürchtet, durfte sich bei der Pekinger Regierung mehr herausnehmen als andere. Er konnte beispielsweise, wie ich wusste, persönliche Einladungen aussprechen. Ich schrieb ihm einen Brief, wir diskutierten über meine Dissertation (in der es unter anderem um den Einfluss der Massenmedien auf die Gesellschaft in der Volksrepublik ging), und er erklärte sich schließlich bereit, meine Reise zu sponsern. Ich konnte nach Peking reisen und Wickert kennenlernen – und bekam ein Ticket nach Schanghai. Es war die beste aller journalistischen Welten: Keiner betreute mich beim Abflug von Peking, keiner erwartete mich bei der Ankunft. Ich war schlichtweg nicht existent, weil nicht erfasst. Oder von den Behörden als »ungefährlich« dem Umfeld des Chefdiplomaten zugeordnet.
In meiner Erinnerung sehe ich graue Vorortstraßen, grau gekleidete Menschen mit grau gewordenen Gesichtern am heruntergekommenen ehemaligen Prachtboulevard Bund im Zentrum; primitive gleichförmige Garküchen, um die sich Hungrige drängten; Hunderttausende Fahrräder, die im Morgennebel schemenhaft vorbeizogen. Es herrschte eine gedrückte Stimmung, die nur in wenigen Momenten aufbrach und in Lebensfreude umschlug. Beispielsweise als eine Menschenmenge mich, den seltsamen Gweilo (»Langnase«), an der Uferstraße im Schutz des Abendlichts einkreiste. Sie wollten, soviel begriff ich, etwas »Typisches« aus meiner Heimat hören: Volkslieder. Erst sang ich »Am Brunnen vor dem Tore«. Dann revanchierten sie sich mit »Der Osten ist rot«. So ging es weiter, bis das Ganze in einen regelrechten Sängerwettstreit ausartete. Irgendwann näherte sich ein Polizist, schwang drohend seinen Stock. Blitzschnell löste sich der Straßenchor wieder auf. In der Hosentasche fand ich später einen zusammengeknüllten Zettel, die Botschaft eines Einzelnen aus der Menge. »Sagen Sie der Welt, dass die Partei uns brutal unterdrückt.« Unterschrieben war er nicht, und doch war die Aktion ein Zeichen ungewöhnlichen Mutes. Denn immer noch waren auch flüchtige Kontakte mit Ausländern anmeldepflichtig, jede auch nur ansatzweise politische Meinungsäußerung führte zu Gefängnis und Arbeitslager.
Aber die Schanghaier, die mir im ersten Moment wie eine gleichförmige Masse, als Ansammlung der sprichwörtlichen »grauen Ameisen«, vorgekommen waren, ließen sich offensichtlich von niemandem völlig gleichschalten und ihrer Individualität berauben. Es war dieser Charakterzug, der mich in den kommenden Jahren immer wieder nach Schanghai reisen ließ.
1980 wurde ich Fernost-Korrespondent für den stern mit Sitz in Hongkong. Die Chefredaktion wollte als eine meiner ersten Geschichten einen Bericht über den Prozess gegen die Viererbande, der gerade in Peking begonnen hatte. Die Mao-Witwe Jiang Qing hatte mit ihren Getreuen den Machtkampf verloren. Es war das offenkundige Ende der Kulturrevolution, der Sieg der Gemäßigten um Deng Xiaoping und der Beginn einer dramatischen ökonomischen Kehrtwende. Chinas »pfeffriger Napoleon«, wie sie den kleinwüchsigen, willensstarken Mann aus Sichuan nannten, war von Mao verfemt und gedemütigt worden, aber nicht aus der Partei ausgeschlossen. Im November 1978 hatte er sich beim Parteitag durchgesetzt und den – vorsichtigen – Start der wirtschaftlichen Liberalisierung eingeleitet. Noch war davon wenig im Land zu spüren. Und politisch herrschte bei meinem zweiten China-Besuch immer noch absolute Eiszeit. Ich musste als Tourist getarnt einreisen, meine Frau hatte sich angeschlossen – es war unsere Hochzeitsreise. Über den Strafprozess »Chinesisches Volk contra Viererbande« ließ sich dann nicht nach westlichen Vorstellungen berichten. Wir wenigen ausländischen Beobachter waren auf Gewährsleute aus dem Gerichtssaal angewiesen. Um die Informanten nicht zu gefährden, trafen wir sie nur nachts, tagsüber absolvierten wir das offizielle Touristenbesuchsprogramm. Am Ende wurde die Viererbande dann zum Tod
Weitere Kostenlose Bücher