Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Fahrt verloren hat, weiter privatisiert, das System insgesamt demokratisiert werden – oder entscheidet sich die KP für ein Weiter-so, gar für ein militärisches Muskelspiel bis hin zu einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Japan? Wird sie mit ihren jüngsten Skandalen immer mehr zur Firma mit mafiosen Strukturen?
Und gerade weil dies von so entscheidender Bedeutung für das Selbstverständnis der Pekinger Politiker ist, beobachtete der Westen fassungslos, wie blamabel das Unternehmen misslang. Unabhängige chinesische Blogger überschlugen sich vor Zynismus und Häme, Staatsmedien versuchten verzweifelt, den abenteuerlichen Vorgängen eine positive Seite abzugewinnen – oder verschwiegen sie ganz. Und selbst in den Staaten der Dritten Welt, die bisher dem chinesischen »Modell« durchaus etwas abzugewinnen vermochten, fragten sich nun viele, ob ein von fairem, offenem Streit und funktionierenden Institutionen wie einer unabhängigen Justiz und Pressefreiheit begleiteter Machtwechsel den Pekinger Peinlichkeiten nicht doch vorzuziehen ist.
Im Zentrum des Sturms standen in letzter Zeit zwei der bekanntesten chinesischen Politiker, beide als Mitglieder des Politbüros hochgeachtet und auch international als künftige Führer der Weltmacht anerkannt: Bo Xilai und Xi Jinping. Für das Duo war Anfang 2012 der steile Weg nach oben vorgezeichnet, die letzte Station zum Gipfel der Macht programmiert – alles nur noch Formsache. Bo, 63, sollte zu den Spitzenpolitikern in den Ständigen Ausschuss aufrücken, Xi, 59, war gesetzt, die höchsten Ämter in Staat und Partei zu übernehmen. Bilderbuchkarrieren, so verblüffend parallel verlaufend wie ihre Viten: Beide waren »Prinzlinge«, schon ihre Väter ganz oben in der KP -Hierarchie. Beide hatten in zweiter Ehe eine im ganzen Land bekannte Frau geheiratet. Beide schickten eines ihrer Kinder nach Harvard. Und jeder der Familienclans hat es zu einem erstaunlichen, Hunderte Millionen Dollar zählenden Vermögen gebracht.
Schon wenige Monate später aber klaffen die Schicksale weit auseinander: Bo Xilai verlor alle Parteiämter, er wurde aus der KP geworfen und an einem geheimen Ort unter Hausarrest gestellt. Ihm droht ein Strafprozess, bei dem die Anklage auf Korruption, Landesverrat, sogar auf Mitbeteiligung an einem Mordkomplott lauten könnte. Xi Jinping dagegen erhielt beim Parteitag Mitte November 2012 die höchsten Weihen als KP -Generalsekretär und wurde vier Monate später auch Staatspräsident des Landes. Sein Triumph als unumstrittene Nummer eins der Volksrepublik dürfte allerdings für immer durch die Affäre um seinen Konkurrenten überschattet sein, die so entlarvend und beispielhaft von internen Machtkämpfen erzählt, die es im »brüderlichen« System der KP doch gar nicht geben dürfte. Die Geschichte zeigt zudem, wie dicht auch und gerade in China Karriere und Gefängnis zusammenliegen können. Denn noch weniger als zweieinhalb Jahre zuvor war Xi zu Gast bei dem heute so verfemten Gouverneur Bo in Chongqing gewesen und hatte dessen unkonventionellen Maßnahmen gegen das Verbrechen in der weltgrößten Stadt als »vorbildlich« gepriesen – Bilder und Sätze, die von den Staatsmedien inzwischen gelöscht wurden, aber in Blogs überall auftauchen.
Es bleiben bis heute zentrale, ungelöste Fragen: Wann und wie will Xi Jinping, der Meistertaktierer, auf den Skandal eingehen? Was wird die Sprachregelung sein, mit der sich die neue Nummer eins von den Vergehen des prominenten, ebenso schillernden wie weitgehend populären Parteifreundes distanziert, ohne die KP zu beschädigen? Und droht Bo Xilai die Exekution durch Genickschuss, oder werden manche seine Vergehen in einem Geheimverfahren unter den Teppich gekehrt, da zu typisch und entlarvend für die Machtelite? Zwei Leben, die Aufstieg und Fall in China symbolisieren. Zwei Leben, die dramatisch zeigen, wie weit Anspruch und Wirklichkeit im Wirtschaftswunderland auch heute noch auseinanderklaffen. Wie dünn der Kitt ist, der China zusammenhält – und wie schwer es sein wird, diesen Staat in den schwierigen Zeiten des fallenden Wirtschaftswachstums, der sozialen Spannungen und der gesellschaftlichen Überalterung zu lenken.
Provinz Shaanxi, Zentralchina, eine in die graugelben Lösshügel hineingegrabene Höhlenwohnung im Dorf Liansgjiahe. Hier hat der künftige Parteichef seine prägenden Jugenderlebnisse, und keiner kennt die besser als sein alter Freund Lü Housheng. Stolz zeigt er vergilbte
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