Die neuen Weltwunder - In 20 Bauten durch die Weltgeschichte
unerwünschten Subjekten, seien es Kranke, Arme oder Fremde. Auch der berühmte Limes, der römische Grenzwall am Nordrand des mächtigen antiken Imperiums, gilt vielen eher als Errungenschaft denn als militärische Anlage zur kriegerischen Abwehr – und so ist es auch mit der Chinesischen Mauer. Angesichts des imposanten Ausmaßes des Tausende Kilometer langen Bauwerks gerät leicht aus dem Blick, welche Anstrengungen zumeist überaus bedauernswerter Zwangsarbeiter notwendig waren und dass ungezählte Menschenleben dafür geopfert wurden. Ebenso wird gern vergessen, dass sie letzten Endes ihren Zweck der Grenzsicherung des chinesischen Kaiserreiches gar nicht erfüllte.
Die Große Mauer im Norden Chinas, einstmals zur Verteidigung der unsicheren Nordgrenze des Reiches errichtet, ist heute das Anlaufziel Nummer eins für Chinabesucher. Nicht nur Touristen kommen in Scharen, auch für Staatsgäste gehört ein Besuch meist zum Pflichtprogramm. Und ob Rucksacktouristen oder Staatschefs: In den Augen der Chinesen vermittelt sich jedem von ihnen, der das monumentale Bauwerk ehrfürchtig bewundert, Größe und Bedeutung Chinas in der Welt. Die überwiegende Mehrheit der Touristen besucht die herausgeputzten Mauerabschnitte nördlich von Peking, in Badaling oder Mutianyu. Hier wurde aufwändig restauriert, seit Chinas mächtiger Mann Deng Xiaoping 1984 den Befehl dafür erteilt hatte: »China lieben, die Große Mauer wieder aufbauen«, lautete damals die Parole. Heute kommen Touristenscharen hierher, um die gewaltigen Ausmaße des Verteidigungswalls zu erahnen, wenn sich die Zinnen der Grenzlinie über Hügel und Bergkuppen auf und ab schlängeln, anmutig unterbrochen von Wachtürmen, so weit das Auge reicht. Hier stammt das Mauerwerk aus dem 15 . und 16 . Jahrhundert, und Ansichten wie diese bestimmen das romantisch gefärbte Bild von der Chinesischen Mauer, das sich die Welt gemacht hat.
Umfängliche Gemeinschaftsarbeiten konnten im prähistorischen China schon sehr früh bewerkstelligt werden – Zeichen einer komplexer werdenden Gesellschaft, in der nicht mehr jeder selbst um seine direkte Existenzsicherung bemüht sein muss, sondern für andere Arbeiten abgestellt werden kann. Bereits im 3 . Jahrtausend v. Chr. wurde in Chengziya in der heutigen Provinz Shandong eine große Wallanlage errichtet: viele Hundert Meter lang und sechs Meter hoch. Über hunderttausend Kubikmeter Erde mussten dafür bewegt, mithin enorm viele Menschen verpflichtet werden, um die Arbeiten zu verrichten. Auch für Kriegszüge reichten die menschlichen Kapazitäten, wie Archäologen nachweisen konnten. Seit Ende des 3 . Jahrtausends kann man von einer Hochkultur in China sprechen, die unter anderem die ersten Städte hervorbrachte, häufig mit schützenden Mauern aus gestampfter Erde und Lehm. Mit der Gründung der ersten, der Xia-Dynastie, beginnt in dieser Zeit zudem Chinas Staatlichkeit – wenn auch territorial in erheblich bescheidenerem Maße als heute und lange Zeit nicht als einziger Staat auf dem Boden des Reichs der Mitte.
Auch die Geschichte der Chinesischen Mauer reicht sehr viel weiter zurück als ins 15 . Jahrhundert – nämlich sogar in die Zeit noch vor der Gründung des ersten chinesischen Einheitsstaates durch den ersten Kaiser, Qin Shihuangdi, am Ende des 3 . vorchristlichen Jahrhunderts.
Erste Arbeiten für eine große Mauer begannen bereits einige Jahrhunderte zuvor, nämlich im 5 . Jahrhundert v. Chr., zu Zeiten des Königshauses der Zhou, der dauerhaftesten chinesischen Herrscherdynastie, die damals jedoch schon viel an früherem Glanz und einstiger Gloria eingebüßt hatte und kaum noch regierte, sondern nur mehr repräsentierte.
Im 11 . Jahrhundert v. Chr. kriegerisch an die Macht gekommen, hatte der neue regierende Klan in den Regionen des Landes vorzugsweise Verwandte oder verbündete Gefolgsleute als Statthalter eingesetzt. Daraus entwickelte sich eine mächtige Aristokratie, die schwachen Königen gefährlich werden konnte. Zwar war das reale Herrschaftsgebiet der »Himmelssöhne«, wie sich die Könige ob ihres direkten Drahts zu den Göttern nennen ließen, erheblich größer als das früherer Herrscher. Vor allem im Nordwesten und Westen jedoch wurden die Grenzbewohner immer wieder von fremden »Barbaren« attackiert. Äußeren Bedrohungen aber konnten schwache Herrscher mit umso weniger Stärke begegnen, je mächtiger die Lokalfürsten waren – denen königliche Niederlagen noch dazu zwecks eigener
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