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Die Neunte Gewalt

Titel: Die Neunte Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Land
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gefror vor dem Gesicht ihres Großvaters, als er in einer schlichten Mackinaw-Jacke von seinen morgendlichen Pflichten zum Haus zurückkehrte, und der Wind zerzauste seine weißen Locken. Solche Erinnerungen trösteten sie. Sie kamen, wenn sie sie am dringendsten brauchte, und sie waren immer lebhaft und nie weit entfernt.
    »Ich bin soweit«, flüsterte Christopher Hanley und holte Hedda in die Gegenwart zurück.
    »Gut. Nur noch einen Augenblick.«
    Ihr war etwas eingefallen, und sie knöpfte die mittlerweile schweißnasse Khakijacke auf: Die kugelsichere Weste war nur knapp zweieinhalb Zentimeter dick; ihr Kevlar war zu unglaublich dichten Strängen verwoben. Sie zog sie über den Kopf und wünschte, ihr Schweiß hätte die Weste nicht um noch einiges schwerer gemacht.
    »Zieh dein Hemd aus und lege das hier an«, sagte sie zu dem Jungen.
    »Was ist das?«
    »Eine kugelsichere Weste.«
    Die Zeit wurde knapp. Wenn sie zu lange warteten, würden die Soldaten zur Residenz zurückkehren. Wenn sie zu früh aufbrachen, würde die Nacht noch nicht dunkel genug sein, um sie zu verbergen.
    »Wie viele von ihnen haben Sie getötet?« fragte Christopher Hanley, als er sein Hemd über der Weste zuknöpfte.
    »Keine Ahn … das spielt keine Rolle.«
    »Doch, es spielt eine Rolle. Als die Männer mich entführten, haben sie meinen Lehrer getötet. Ich habe den Mann gesehen, der es getan hat.«
    »Ich weiß.«
    »Ich hasse die Kerle. Ich wußte, daß jemand kommen würde. Ich habe es geträumt. Hätte ich eine Pistole, hätte ich dasselbe getan wie Sie. Ist mir egal, ob Sie mir glauben oder nicht.«
    »Acht«, erwiderte Hedda.
    »Was?«
    »Und ich glaube dir.«
    Das weiche Gras dämpfte die Geräusche, als sie aus dem Fenster glitten. Hedda ging zuerst und half Christopher dann hinaus. Die früher einmal gepflegten Büsche gaben ihnen für den Augenblick Deckung, doch die Scheinwerfer verbreiteten mehr Licht, als Hedda erwartet hatte. Wenn sie jetzt einfach losstürmten, riskierten sie es, auf offener Fläche überrascht zu werden, und Hedda wußte, daß sie kaum Widerstand leisten konnte. Sie hatte zwar ein neues Magazin in die Maschinenpistole geschoben, doch sie konnte nicht schießen, wenn sie nicht alle feindlichen Kräfte auf sich aufmerksam machen wollte. Doch im Augenblick befanden sich sämtliche Wachtposten auf ihren Streifengängen ziemlich weit auseinander, und da ihre junge Geisel ja anscheinend entkommen war, bestand für sie kein Grund zu erhöhter Wachsamkeit.
    Lichtstrahlen durchschnitten die Nacht und hätten sie beinahe erfaßt. Hedda packte Christopher und riß ihn zu Boden. Das Licht glitt über sie hinweg und verlosch. Ein Fahrzeug, offenbar ein Jeep, war durch das Haupttor auf das Gelände der Residenz gefahren. Als das Fernlicht des Jeeps ausgeschaltet wurde, verdichtete die Dunkelheit der Nacht sich wieder. Hedda hörte, wie der Motor des Jeeps kurz stotterte und dann ebenfalls erstarb. Sie vermutete, daß das Fahrzeug nun auf der kreisrunden Auffahrt auf halber Höhe zwischen dem Tor und dem Haus stand.
    »Bleib neben mir«, flüsterte sie dem Jungen zu. »Beweg dich, wie ich mich bewege.«
    Auf Knien und Ellbogen kroch sie so langsam voran, daß er mithalten konnte, doch sie mußte kaum Rücksicht nehmen. Der Knabe war jung und sportlich und kroch erstaunlich schnell über den Boden. Sie blieben in den vertrockneten Büschen, die das Haus auf der gesamten Vorderseite umsäumten. Der Jeep stand genau dort, wo Hedda es vermutet hatte. Zwei Wachen hielten die Stellung am Tor, einer auf jeder Seite.
    Der Jeep war fünfunddreißig Meter von ihnen entfernt. Es war zu riskant, einfach schnell hinüber zu spurten, da sie damit auf jeden Fall Aufmerksamkeit erregen würden. Nein, sie mußten sich langsam und im Schutz der Nacht bewegen, damit die Wachen sie erst bemerkten, wenn sie den Jeep erreicht hatten.
    Hedda zeigte zum Jeep hinüber, und der Junge nickte. Es war erstaunlich, daß er nach allem, was er durchgemacht hatte, noch über eine solche Selbstbeherrschung verfügte. Erneut rührte sich etwas in ihrem Gedächtnis. Ein anderer Junge … eine andere Zeit …
    Wann?
    Wer?
    Andere Dinge verlangten jetzt ihre vollkommene Konzentration. Auf dem Weg zum Jeep gab es etwas Deckung, aber nicht viel. Das letzte Stück mußten sie über eine offene Fläche zurücklegen, und Hedda konnte nur hoffen, daß die Nacht sie schützen würde. Das kalte Erdreich wich schnell dem warmen Asphalt der Auffahrt und dieser

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