Die Neunte Gewalt
Hedda schenkte seinen Worten kaum Beachtung, bis ihr plötzlich irgend etwas seltsam erschien.
»Was hast du gerade gesagt?« fragte sie ihn.
Christopher wirkte verwirrt. »Daß ich nicht begreife, warum …«
»Nein, über deinen Vater.«
»Daß er nichts mit denen zu tun hat. Warum haben die Männer mich dann eigentlich entführt?«
»Aber er arbeitet doch für Aramco.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein, tut er nicht. Er ist Chemiker, Spezialist für organische Chemie.«
Jetzt war es an Hedda, Verwirrung zu zeigen. »In Riad?«
»Nein, in London. Von da komme ich auch.«
Hedda versuchte, sich aufs Fahren zu konzentrieren. Die Informationen, die Librarian ihr bezüglich Christopher Hanley gegeben hatte, waren allesamt falsch. Ihrer Gruppe waren niemals solche Fehler unterlaufen, außer … außer …
Man hatte sie absichtlich gemacht.
»Sie haben dich in London entführt«, nahm Hedda den Faden wieder auf.
»Ich habe nur einen von den Kerlen gesehen.«
»War er in der Residenz?«
»Nein. Er war nur in der Schule.« Der Junge senkte den Kopf. »Er hat den Lehrer erschossen, als der versucht hat, mir zu helfen.« Seine Augen schimmerten feucht. »Der Mann war groß und hatte nur ein Auge.«
Ein Frösteln lief Hedda über den Rücken. »Nur … ein Auge?«
»Über dem anderen trug er eine Klappe.«
Hedda wurde eiskalt.
Deerslayer! Der einzige andere Caretaker, den sie kannte, ein Mann, dem sie das Leben gerettet hatte … Dieser Junge beschrieb Deerslayer!
Aber wie war das möglich? Warum sollten die Caretakers eine Entführung arrangieren, nur, um sie schließlich selbst zu beenden? Das ergab keinen Sinn. Es mußte irgend etwas geben, das sie nicht wußte, etwas, das man ihr verschwiegen hatte – aus welchen Gründen auch immer.
Man hatte sie belogen …
Allein die Möglichkeit brachte sie völlig aus der Fassung. Wenn sie erst das Vertrauen in die Caretakers verloren hatte, war alles verloren. Welchen Grund gab es dafür? Was für einen Sinn konnte dieses Vorgehen haben? Vielleicht hatte sie sich zu einer Überreaktion hinreißen lassen, vielleicht beeinträchtigte ihre rapide zur Neige gehende Nervenstärke ihre Fähigkeit, zusammenhängend zu denken.
»Wir sind da«, sagte sie ein paar Minuten später, nachdem sie den Wagen an den Straßenrand gefahren hatte.
»Wollen Sie nicht über die Brücke fahren?«
»Nein«, antwortete sie dem Jungen, nicht ganz sicher, was genau sie nun vorhatte.
Die Brücke war dunkel und abgeschieden. Hedda und Christopher erreichten ihr linkes Ende, und augenblicklich flammten auf dem rechten drei Scheinwerferpaare auf. Hedda blinzelte in die Helligkeit. Der Junge hob eine Hand vor die Augen.
»Komm«, sagte sie zu ihm, und gemeinsam gingen sie auf das Licht zu, das sich in ihre Richtung ergoß.
Die Brücke war hundert Meter lang und erstreckte sich über den gesamten Fluß Litani, der von Norden nach Süden verlief. Christophers Schritte wurden langsamer, als sie sich der Mitte näherten. Hedda spürte sein Zögern.
»Sie werden mich ihnen übergeben, nicht wahr?« vermutete er völlig richtig.
»Sie werden dich zu deinem Vater zurückbringen.«
Er ist Chemiker, Spezialist für organische Chemie.
Auf der anderen Seite der Brücke warteten diejenigen, die sie belogen hatten. Sie hatten sie aus Gründen ausgeschickt, den Jungen zurückzuholen, die sie ihr nicht ehrlich enthüllt hatten …
Er war groß und hatte nur ein Auge.
… nachdem Deerslayer den Jungen entführt und an die Araber ausgeliefert hatte. Vielleicht ein Zufall. Vielleicht irrte der Junge sich auch.
Irgendwo tief in Hedda regte sich eine Erinnerung. Ein anderer Junge, eine andere Zeit. Lichter, Schüsse und Blut, soviel Blut …
Sie waren auf halber Höhe der Brücke, als Hedda endlich die Männer ausmachen konnte, die vor allen drei Wagen standen. Eigentlich nur Gestalten, kaum sichtbar im blendenden Glanz der Scheinwerfer. Aber für eine einfache Übernahme hatten sie sich völlig falsch verteilt. Hedda ging langsamer und streckte die Hand zu dem Jungen aus.
»Bleib stehen«, befahl sie.
»Was?«
Ihre Hand berührte seine Schulter. »Wenn ich es dir sage, drehen wir uns um und laufen zur anderen Seite zurück, zu dem Wagen.«
»Aber …«
»Wenn ich es dir sage.«
Hedda war kaum herumgewirbelt, als Schüsse die Nacht zerrissen. Beim ersten Knall ließ sie sich instinktiv fallen. Zwei Kugeln schlugen gegen die Brust des Jungen und wurden von der Kevlar-Weste
Weitere Kostenlose Bücher