Flammenzorn
KAPITEL EINS
Die Wahrheit tat weh.
Das tat sie immer, sogar in den dunklen, kalten Stunden am frühen Morgen, wenn so gut wie alles schlief.
Anya stand, die Hände in den Taschen vergraben, vor der Tür des Spukhauses und unterdrückte ein Gähnen. Sie hatte ein Taxi genommen, weil sie nicht wollte, dass ihr Kennzeichen in dieser Gegend gesehen und aufgezeichnet wurde. Das Taxi war bereits weggefahren. Rote Heckleuchten schwebten die graue Straße hinunter. Das zweistöckige braune Backsteingebäude sah genauso aus wie all die anderen Häuser in dieser Straße mit ihren vergitterten Fenstern und Türen. Aus einem verbeulten Van am Straßenrand ragten Kabel hervor und schlängelten sich unter der Haustür hindurch. Dennoch brannte drinnen kein Licht. Der Wind trieb leere Plastiktüten über die Schlaglöcher im Gehweg, bis sie sich in einem niedrigen Eisenzaun verfingen.
Sie drückte den Klingelknopf, hörte von drinnen den Nachhall des Läutens und kurz darauf ein Scharren. Anya wartete und säuberte ihre Schuhsohlen an der Fußmatte, die mit Klebeband auf dem Boden der gestrichenen Veranda befestigt war.
Im Haus wurde eine Lampe angeknipst, und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. »Danke, dass du gekommen bist«, sagte der Mann hinter der Tür.
»Als hätte ich eine Wahl gehabt.«
Das war die reine Wahrheit; selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie sich der Bitte nicht verweigern können. Sie hielt die eigentliche Wahrheit, die in ihrer Kehle brannte, zurück: Aber ich wünschte, ihr würdet aufhören, mich zu rufen. Ich wünschte, ihr würdet mich nicht mehr bitten, das zu tun.
Anya schritt über die Kabel hinweg in den gelben Lichtschein einer zylinderförmigen Lampe, die das Wohnzimmer erleuchtete. Das Drahtgestell des Schirms warf ein Muster in der Form von schwarzen Speichen an die Zimmerdecke. Dort war ein Wasserfleck zu sehen. Der Fleck war offenbar sorgfältig übermalt worden, doch das Wasser sickerte weiter hindurch und verfärbte die mit körnigem Putz überzogene Decke gelblich. Ein Fernsehschrank stand düster und still wie ein riesiger Käfer in der Ecke, und die Stangen der Hasenohr-Antenne zeigten nach Norden und Osten und lauschten nach längst verstummten Signalen. Eine schäbige, karierte Couch dominierte den Raum. Auf ihr lagen allerlei technische Geräte, die gar nicht in diese Umgebung passten: Detektoren für elektromagnetische Felder, digitale Diktiergeräte, kompakte Videokameras. Laptops standen auf Klapptischen und warfen rechteckige blaue Lichtflecken an die Wände.
Anyas Blick huschte zu den Videokameras und gleich wieder weg. »Ich mag es nicht, aufgenommen zu werden.«
»Das wissen wir.«
Jules, der Leiter der Detroit Area Ghost Researchers, lehnte an einer Wand und nippte an einer Tasse Kaffee. Bei seinem Anblick käme niemand auf die Idee, Jules könnte ein so tiefgehendes Interesse für das Paranormale hegen, dass er zum Anführer einer Gruppe von Geisterjägern geworden war. Er war der Inbegriff des Durchschnittsbürgers: Anfang vierzig, abgetragene Jeans und ein kleiner Wohlstandsbauch, der sich unter einem blauen Poloshirt versteckte. Unter seinem Ärmel lugte ein tätowiertes Kreuz hervor. Sein gebräuntes Gesicht unter der Detroit-Tigers-Baseballkappe sah erschöpft aus. Nach der Menge an Ausrüstungsgegenständen und den zusammengerollten Schlafsäcken am Boden zu urteilen, hatten die DAGR bereits einige Nächte hier verbracht.
Anya setzte sich auf den Rand der Couch und rieb sich die bernsteinfarbenen Augen. »Also, was gibt es?«
Jules trank einen Schluck von seinem Kaffee. In seinem dunklen Bart blieb etwas Kaffeesahne hängen. »Wir haben den Fall vor zwei Wochen übernommen. Die kleine alte Dame, die hier wohnt, war fest davon überzeugt, dass ihr toter Ehemann zurückgekommen sei, um sie heimzusuchen. Sie hat von Lampen erzählt, die sich von allein ausgeschaltet haben, und von dunklen Gestalten im Spiegel.«
»Ist sie zu euch gekommen oder habt ihr sie gefunden?«
»Ich habe sie gefunden.« Tagsüber las Jules Gaszähler ab. Er verstand sich gut auf ungezwungenes Geplauder, und die Menschen vertrauten ihm instinktiv. Anya nahm an, dass er irgendeine latente psychische Gabe besaß, die es ihm erlaubte, ein Gefühl für Orte und Menschen zu entwickeln. Jedenfalls konnte er zu den meisten Leuten eine Verbindung herstellen. Doch Anya schien er mit Skepsis zu begegnen. Sie glaubte nicht, dass er viel für sie oder ihre Methoden übrig hatte. Aber sie
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