Die Neunte Gewalt
diesem Abend schweiften die Gedanken zurück zur Entstehung des Fährmanns.
Er hatte seine Ausbildung bei den Special Forces beendet und war für eine bestimmte Dienstzeit vom Anti-Terror-Kommando der Delta Forces aufgenommen worden, als er die Nachricht vom Tod seiner Eltern erhielt. Er bekam Sonderurlaub, um an der Beerdigung teilnehmen zu können. Er war der einzige Verwandte dort, der einzige, der übrig geblieben war, abgesehen von einer Schwester, die aus dem strengen Elternhaus geflohen und nie zurückgekehrt war. Für seinen Vater hatte sie nicht mehr existiert; seine Mutter aber hatte viele Tränen darüber vergossen. Kimberlain, der damals noch ein Junge gewesen war, erinnerte sich kaum an seine Schwester.
Der Kommandant von Fort Bragg hatte angedeutet, daß die Umstände des Todes seiner Eltern ungewöhnlich, wenn nicht sogar seltsam waren, und in den Stunden vor der Beerdigung hatte Kimberlain herausgefunden, daß diese Vermutung zutraf. Anscheinend waren sie in ihrem kürzlich erworbenen Wohnmobil kreuz und quer durch Kalifornien gefahren, als sie wegen eines technischen Defekts anhalten mußten. Sein Vater hatte starrköpfig darauf bestanden, den Schaden selbst zu beheben, doch nach Anbruch der Nacht hatte er den Wagen noch immer nicht repariert, und das ältere Ehepaar war einer Motorradbande zum Opfer gefallen, die es auf das Wohnmobil abgesehen hatte. Es kam zu einem Schußwechsel, und nach allem, was Kimberlain in Erfahrung bringen konnte, hatte sein Vater tapfer Widerstand geleistet. Doch letztendlich trugen die Motorradfahrer schon aufgrund ihrer beträchtlichen Überzahl den Sieg davon und hatten seine Eltern ermordet.
Kimberlain hatte insgesamt drei Tage Sonderurlaub von Fort Bragg bekommen. Bei der Beerdigung hatte er nicht auf die klischeehaften Phrasen des Priesters gehört, sondern über andere Dinge nachgedacht. Er hatte in seinem Gepäck eine .45er aus dem Militärlager geschmuggelt, und wenn er mehr als ein Magazin benötigte, um seine Aufgabe zu erledigen, hatte er das Schicksal verdient, das ihn in diesem Fall erwartete.
Er hatte schnell einen Plan ausgearbeitet. Er behielt den Anzug an, den er zur Beerdigung getragen hatte, und zog eine Kappe über seinen kurzen Army-Haarschnitt. Bei der nächsten Hertz-Niederlassung mietete er einen großen Lincoln und bezahlte in bar für das stählerne Ungetüm. Er fuhr zu einer Kneipe, die als Motorradrocker-Treffpunkt bekannt war, und stellte von außen fest, daß sich tatsächlich eine unrühmliche Anzahl lederbekleideter Trunkenbolde und Unruhestifter darin aufhielt. Kimberlain schätzte, daß sich die Menge wohl kaum vor Mitternacht auflösen würde, und wartete in aller Ruhe ab.
Gegen halb zwölf fuhr er in südliche Richtung los. Sämtliche Motorradfahrer wohnten in einer Siedlung an der Route 15, und er suchte sich eine Stelle aus, die nur schwach von einer Straßenlampe erhellt wurde, und hielt an. Er holte den Wagenheber aus dem Kofferraum und gab vor, einen Platten zu haben.
Dutzende Motorradfahrer brausten an ihm vorbei, ohne anzuhalten. Ein paar fuhren langsamer. Einige beschimpften oder verspotteten ihn. Kimberlain überlegte, was er tun würde, falls die Nacht so enden sollte.
Er mußte nicht lange überlegen. Sieben Motorradfahrer näherten sich ihm. Ursprünglich waren sie vorbeigefahren, dann aber zurückgekehrt. Er mußte seine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen, um abzuwarten, daß sie den ersten Schritt taten, und nachdem sie ihn getan hatten, war alles sehr schnell vorbei. Die ersten beiden und den letzten tötete Kimberlain mit bloßen Händen. Bei den anderen benutzte er die .45er; jeder Schuß ein Treffer. Die darauffolgende Untersuchung der Leichen ergab, daß sich der Boß der Bande nicht unter den sieben befand. Kimberlain kehrte zur Bar zurück und verschaffte sich Zutritt zu einem Hinterzimmer, in dem er den Bandenboß in ein Gespräch mit einem großen, gutgekleideten Mann vertieft vorfand.
»Scheiße!« brüllte der Boß, als er Kimberlain kommen sah.
Doch seltsamerweise war es der gutgekleidete Mann, der eine Waffe zog. Aber Kimberlain gelang es, den wegen seines Bierkonsums langsam gewordenen Boß zu packen und in die Schußlinie zu zerren. Der Rocker wurde von vier Kugeln getroffen, prallte gegen Kimberlain und schlug dem späteren Fährmann dabei die .45er aus der Hand. Während ihm noch immer Kugeln um die Ohren pfiffen, zerrte Kimberlain eine schwere Kette von der Brust des Toten und schlug damit zu.
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