Die Neunte Gewalt
Das spitze Ende grub sich in die Kehle des Schützen und zerfetzte sie. Kimberlain ließ ihn in einer Blutpfütze liegen und beobachtete, wie der Mann dem Tod entgegengurgelte.
Kimberlain verließ Kalifornien ohne einen weiteren Gedanken an die Motorradrocker und fuhr mit dem Lincoln ohne Pause bis nach Fort Bragg durch, wo er sich der Militärpolizei stellte. Man entschied, daß er der Militärgerichtsbarkeit unterstand, und sperrte ihn in eine Zelle, in der er den Prozeß vor dem Kriegsgericht erwarten sollte. Es war durchaus möglich, daß man ihn zum Tode durch den Strang verurteilte; zumindest eine lebenslange Haftstrafe war ihm sicher … wäre ihm sicher gewesen, wäre der Mann von den Caretakers nicht erschienen.
»Sie verfügen über Fähigkeiten, die für eine besondere Gruppe, die ich repräsentiere, hervorragend geeignet sind.«
»Was für eine Gruppe?«
»Sie haben nie von uns gehört. Das haben nur sehr wenige. Wir werden die Caretakers genannt. Eigentlich ›die Verwalter‹, aber bei uns hat das Wort eine tiefe Bedeutung. Wir nehmen Anteil. Wir achten auf etwas, kümmern uns um etwas.«
»Und um was genau kümmern Sie sich?«
»Um unser Land«, hatte der Mann geantwortet.
Und fast drei Jahre nachdem Kimberlain aus der Haft ›entlassen‹ worden war, hatte er dasselbe getan. Jeder Caretaker war ein Experte in der Kunst des Tötens, doch keiner kam ihm in dieser Hinsicht gleich. Der rätselhafte blinde Führer der Gruppe, der sich Zeus nannte, taufte Kimberlain ›Charon‹, nach dem Fährmann aus der griechischen Mythologie, der die Toten über den Fluß Styx brachte. Der Deckname hätte nicht treffender sein können. In Kimberlains ersten beiden Jahren scheiterte keine einzige seiner Missionen. All die, die einen Fahrschein für die Reise über den Styx gebucht hatten, traten sie auch an.
Doch am Ende hatte sich der eingeschlagene Weg als Einbahnstraße entpuppt. Bei seinem letzten Auftrag ließen seine eigenen Leute ihn auf Zeus' Befehl als tot zurück; ausgerechnet auf dessen Befehl! Die langen Tage seiner Flucht allein durch den Dschungel Mittelamerikas machten ihm seine mißliche Lage klar: um das Böse zu vernichten, war er selbst zum Bösen geworden. Die Caretakers selbst waren böse. Indem er die entsprechenden Behörden auf ihre Existenz aufmerksam machte, erzwang Kimberlain eine Entscheidung. Die Caretakers konnten nicht zulassen, daß ihre Existenz in den falschen Ämtern Washingtons bekannt wurde. Die Gruppe löste sich so heimlich und leise auf, wie sie sich gebildet hatte.
Es war ihm gelungen, sich an denen zu rächen, die ihm Unrecht zugefügt hatten. Und doch war er unglücklich, und sein Leben hatte keinen rechten Sinn mehr. Er vermißte verzweifelt die Außeneinsätze und die Erfüllung, die sie seinem Dasein gaben. Obwohl er aus den falschen Gründen gehandelt hatte, hatten die Missionen doch den Mittelpunkt seines Lebens gebildet, und ohne diesen Mittelpunkt kam er sich aus dem Gleichgewicht geworfen und nutzlos vor. Er mußte sich wieder würdig fühlen, eine Rolle spielen; sein Leben brauchte einen Sinn.
Die Lösung des Problems bot sich ihm ganz zufällig. Ein ehemaliger Caretaker, mit dem er einmal zusammengearbeitet hatte, war in Südkalifornien zum Sheriff gewählt worden, in seinem Bezirk in Orange County trieb ein Massenmörder sein Unwesen, der seine Opfer erdrosselte, und der Ex-Kollege bat den Fährmann um Hilfe. Kimberlain überwand sein ursprüngliches Zögern und stellte fest, daß dieser Fall ihm ermöglichte, die Fähigkeiten einzusetzen, die seit so langer Zeit ein Teil von ihm waren und die er so sehr vermißt hatte. Doch nun übte er die Kontrolle aus. Seine Jagd führte zur Festnahme des Mörders, und seine Belohnung war ein tieferes Verständnis seiner selbst. Er war ein Jäger, und ein Jäger mußte jagen. Mehr noch – er war ein Ungeheuer, und nur, indem er andere Ungeheuer zur Strecke brachte, konnte er seine Vergangenheit wiedergutmachen. Er begann, auf eigene Faust und ohne Auftrag die abscheulichsten Verbrecher zur Strecke zu bringen.
Doch auch diese Jagd auf Ungeheuer brachte ihm lange nicht die ersehnte Erfüllung. Um diese Ungetüme aufspüren zu können, mußte er sich ihre Gedanken zu eigen machen, und selbst vor seiner Begegnung mit Winston Peet hatte ihn der Haß gepackt. Er hatte gehofft, für seine Handlungen als Caretaker Buße leisten zu können, indem er die abscheulichen Mörder zur Strecke brachte, die im Gedärm der USA
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