Die Neunte Gewalt
neuen Hinweise. Lauren Talley war schon mehrmals in der Stadt gewesen, aber noch nie des Nachts. Noch schlimmer kam ihr vor, daß Kimberlain sich immer weiter von ihr zu entfernen schien, je länger die Ermittlungen dauerten. Ein paarmal blickte sie verstohlen zu ihm hinüber und stellte sich vor, sie würde Tiny Tim höchstpersönlich sehen. Sie war erleichtert, als sie zum Wagen zurückkehrten.
Das Autotelefon begann zu klingeln, noch bevor sie den Zündschlüssel ins Schloß gesteckt hatte.
»Es ist für Sie«, sagte sie und reichte Kimberlain den Hörer.
»Hallo, Captain«, sagte er, da Captain Seven der einzige Mensch war, dem er verraten hatte, wie man ihn erreichen konnte.
»Wo, zum Teufel, warst du, Boß? Ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen.«
»Ich habe nach Gespenstern gesucht.«
»Hast du welche gefunden?«
»Weiß ich noch nicht.«
»Ich aber, und zwar vierundachtzig Stück, die mir jede Menge zu sagen hatten.«
»The Locks?«
»Schaff deinen Arsch hierher, Fährmann. Ich habe diesen Hurensohn am Wickel.«
DIE DRITTE GEWALT
RENAISSANCE
Sonntag, 16. August, 1 Uhr
12
»Bist du es, Hedda? Bist du es wirklich?«
Hedda ließ sich von dem kleingewachsenen Mann umarmen, der vielleicht der einzige war, der ihr jetzt helfen konnte.
»Oh, bitte, verzeih meine Manieren. Komm aus dem Regen. Du bist ja pitschnaß.«
Hedda trat in das Restaurant, und sein winziger Besitzer Jacques, Sohn vietnamesisch-französischer Eltern, schlug die Tür hinter ihr zu. Sie zuckte bei dem Geräusch zusammen.
»Du bist nervös. Und du hast Hunger.«
»Ich kann nicht bleiben.«
»Unsinn. Jacques sieht doch, daß du völlig ausgehungert bist. Ich habe Eintopf, Wildbret, Hühnchen, alles frisch. Bitte, ich brauche nur ein paar Minuten, um dir ein ausgezeichnetes Mahl zu bereiten.«
»Ich …«
»Ich will keine Widerworte mehr hören. Setz dich und wärme dich auf, während ich dein Essen vorbereite.«
Nachdem der Junge wieder sicher in den Händen seines Vaters war, konnte Hedda über ihr weiteres Vorgehen entscheiden, ohne noch Rücksicht auf ihn nehmen zu müssen. Ihre eigenen Leute, die Caretakers, waren Teil eines Plans, der ihren Tod erforderlich machte. Ihre einzige Überlebenschance lag darin, schleunigst herauszufinden, was sie vorhatten und welche Rolle Lyle Hanleys Toxin TD-13 dabei spielte. Und ihre einzige diesbezügliche Hoffnung war, Deerslayer zu finden. Schließlich war er derjenige gewesen, der Christopher entführt hatte. Er mußte etwas wissen, und das war mehr, als sie zur Zeit wußte.
Sie erreichte Paris ohne Zwischenfall und fuhr direkt zum Le Jardin D'Amber. Jacques' kleines Restaurant befand sich in unmittelbarer Nähe der Palastmauer von Versailles und hatte einen Kundenstamm, der sich fast ausschließlich aus Personen mit militärischem Hintergrund zusammensetzte. Bei der Stuckfassade des Gebäudes fehlte mehr als nur eine Verzierung – eine Folge der deutschen Schrapnellangriffe im Zweiten Weltkrieg, wie Jacques behauptete. Das Lokal war nur etwa fünf mal zehn Meter groß, was es Jacques, der gleichzeitig auch als Koch fungierte, ermöglichte, sich eingehend um die sieben Tische zu kümmern. Die meisten seiner Gäste begrüßte er namentlich.
Er hatte gerade seine Runde an den Tischen gemacht, als Hedda am frühen Sonntag morgen eintraf. Sie stellte fest, daß die meisten Tische – wie immer – besetzt waren, die Gäste zu dieser späten Stunde aber nicht mehr aßen, sondern sich eher ihren Getränken widmeten. Man starrte sie an, als sie das Restaurant betrat, doch nachdem die Gäste zu der Überzeugung gelangt waren, daß Hedda eine von ihnen war, widmeten sie sich wieder ihren Kartenspielen oder Getränken.
Jacques tauchte mit einem Tablett in der Hand aus der Küche auf. Er setzte es auf einen Beistelltisch ab und servierte ihr einen Teller dicker Suppe.
»Ich muß mit Deerslayer sprechen«, sagte Hedda leise, als Jacques sich hinüber beugte, um einen Korb mit Brot auf den Tisch zu stellen.
»Ich habe ihn erst gestern gesehen.«
»Dann ist er in der Stadt?«
»Soweit ich weiß.« Jacques wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ärger?«
»Großen Ärger.«
»Wie kann ich helfen?«
»Indem du dafür sorgst, daß niemand erfährt, daß ich hier war.«
»Natürlich.«
»Und mir sagst, wo ich den Wildtöter finden kann.«
Deerslayers neuester Wohnsitz befand sich in der schmutzigen Seitenstraße Rue du Chat qui Peche auf dem linken Seineufer
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