Die Neunte Gewalt
verraten, was mir entgangen ist?«
»Ihm gefällt, was er tut, Miss Talley.«
»Sie können mich ruhig weiterhin Lauren nennen.«
Doch Kimberlains Gedanken beschäftigten sich schon mit etwas anderem. »Es ist für ihn zu einem Spiel geworden, zu einer Herausforderung – vielleicht zur Ultimaten Herausforderung.«
»Inwiefern?«
»So viele Menschen zu töten, ohne gesehen zu werden, und so wenig Zeit zwischen seinen Anschlägen verstreichen zu lassen. Die anderen, die ich verfolgt habe, selbst Leeds und Peet, waren Taktiker, Strategen. Jeder Zug, den sie machten, folgte einer bestimmten Methode, die wiederum zu einem eindeutigen Ziel führte, ganz gleich, wie widerwärtig es auch sein mochte. Aber Tiny Tim könnte rein zum Vergnügen handeln. Im Gegensatz zu den anderen, mit denen ich es zu tun gehabt habe, reicht es ihm nicht, die Tat zu planen und dann im Nachhinein darüber nachzusinnen. Entweder ist sein Drang zum Töten unstillbar, oder …«
»Oder was?«
»Etwas an der Art, wie er die Städte auswählt, deutet darauf hin, daß er so schnell wie möglich wieder zuschlagen muß.«
»Weil er Angst hat, gefaßt zu werden, oder weil er gefaßt werden will?«
Kimberlain musterte sie aufmerksam. »Das entspricht einem typischen Profil der Verhaltenswissenschaft, nicht wahr? Nun, ich glaube, in diesem Fall trifft es nicht zu. Nein, wenn er seine Opfer nicht zufällig auswählt, hat er einen sehr logischen Grund dafür, nicht zu viel Zeit zwischen seinen Morden verstreichen zu lassen.«
»Und wenn er sie zufällig auswählt?«
»Dann schlägt er vielleicht aufs Geratewohl eine Straßenkarte auf. Oder wirft womöglich Pfeile auf eine Karte. Dann werden wir sein Schema niemals erkennen.«
»Und das heißt?«
»Wenn wir ihn schnappen wollen, müssen wir darauf hoffen, daß er in den beiden Kaffs vielleicht irgendwelche Hinweise zurückgelassen hat.«
Plötzlich tauchte Daisy in der Nacht vor ihnen auf. Im einen Augenblick fuhren sie noch auf einer dunklen Landstraße und im nächsten auf der Hauptstraße eines Ortes, der nie wieder erwachen würde. Die Autobahnpolizei von Georgia hatte rund um die Uhr auf beiden Hauptzufahrtsstraßen Beamte postiert, die die morbiden Neugierigen und die Touristen mit ihren 35-Millimeter-Autofokus-Kameras entmutigen sollten. Lauren Talley zeigte ihren Ausweis, und sie durften passieren.
»Das Überleben von Dixon Springs war von dem saisonalen Skibetrieb abhängig«, erinnerte sie Kimberlain. »Bei Daisy war es etwas völlig anderes. Wer dort keine Farm hatte, fuhr vielleicht Tag für Tag zwanzig oder dreißig Meilen zu seiner Arbeitsstelle.« Sie fuhren die Main Street entlang. »Einige Häuser liegen ziemlich abgelegen. Tagsüber ein schöner Blick auf die Berge und den See. Mit denen fing er an.«
Kimberlain nahm die Geschwindigkeit noch mehr zurück. Rechts von ihnen lag ein Restaurant mitsamt Bar namens Belle's. Ein kommunales Gebäude, welches das Postamt, das Büro des Sheriffs und eine Bank beherbergte, lag direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Es folgten ein kleiner Supermarkt und ein Bekleidungsgeschäft, zwischen denen sich ein paar kleinere Läden befanden, die sich hauptsächlich an Touristen und Durchreisende wandten. Über einem zweiten Restaurant befand sich eine Pension, doch Kimberlain vermutete, daß sie schon dichtgemacht worden war, bevor Tiny Tim Daisy einen Besuch abgestattet hatte.
Eine kühle Brise begrüßte sie, als sie aus dem Wägen stiegen. Von hier aus nicht zu sehende Schlagläden klapperten in der Nacht. Irgendwo quietschte eine offenstehende Tür im Wind. Der Fährmann ging zum Restaurant hinüber und blieb vor dem gelben Band mit der Aufschrift NICHT ÜBERSCHREITEN stehen, mit dem die Polizei Tatorte markierte.
»Wie viele?« fragte er.
Lauren Talley sah auf ihrem Notizblock nach, den sie sich dicht vor die Augen hielt, um in der Dunkelheit lesen zu können. »Fünf, einschließlich des Barkeepers. Der Koch war schon nach Hause gegangen. Er wohnt nicht in Daisy. Wir wissen nicht, ob Tiny Tim die Leute getötet hat, bevor oder nachdem er …«
»Vorher«, sagte Kimberlain.
»Wieso?«
»Weil es sich um Stammgäste handelte und er wußte, daß sie dort sein würden, genau wie er wußte, daß sie die größte Bedrohung für ihn darstellten. Die Telefone waren nicht tot, oder?«
Talley blickte wieder auf den Notizblock und blätterte ein paar Seiten um. »In Dixon Springs ja, hier aber nicht. Zu viele unterirdische
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