Die Neunte Gewalt
im Pariser Stadtteil Quartier Latin. Hedda ging an einem verfallenen Häuserblock nach dem anderen vorbei und fragte sich, warum, zum Teufel, Deerslayer eine so miese Gegend als Hauptquartier gewählt hatte. Durch die geöffneten Fenster hörte sie das Weinen von Babys, Gebrüll und Streitigkeiten. Selbst zu dieser Stunde trieben sich noch zahlreiche Kinder in Gruppen herum. Ein paar musterten sie kurz und schreckten dann zurück, als hätten sie einen elektrisch geladenen Zaun berührt.
Deerslayer wohnte in der vierten Etage einer Mietskaserne. Vor dem Haus und im Eingangsbereich waren keine Lampen angebracht. Wo sich einmal ein Türschloß befunden hatte, klaffte nur noch ein Loch. Das Fenster der Innentür fehlte. Hedda schloß sie vorsichtig hinter sich, damit die Tür nicht quietschte oder zufiel, und stieg das dunkle, schmutzige Treppenhaus hinauf. Der dritte Stock wurde vom Licht einer einzigen Glühbirne erhellt, die selbst für Heddas geübte Augen zu schwach war, als daß sie viel hätte sehen können. Sie stieg noch eine Etage höher, fand Deerslayers Wohnungstür und erstarrte; das Schloß war aufgebrochen worden. Lange Holzsplitter ragten aus Türblatt und Rahmen hervor. Hedda legte die Hand auf die Tür und schob sie langsam auf.
Sie trat über die Schwelle und drückte die Tür hinter sich zu. Die einzige Helligkeit im Zimmer stammte vom Licht flackernder Neonschilder am Gebäude gegenüber, das durch die halb zugezogenen Jalousien fiel. Der Raum war ein einziges Chaos. Möbel waren umgeworfen und zertrümmert worden. Der Boden war mit bereits trocknenden Blutpfützen bedeckt, die Wände mit zahlreichen Blutspritzern. Hedda bückte sich und berührte das Blut mit den Fingerspitzen. Es war noch frisch, höchstens eine oder zwei Stunden alt. Sie ging weiter.
Das Zimmer war völlig quadratisch, nicht tapeziert und armselig möbliert. Der scharfe Geruch vergossenen Blutes wurde immer stärker. Es zog sich in einer punktförmigen Linie über den Boden bis zur hinteren Wand, in der eine einzige Innentür in ein Badezimmer führte. Diese Tür stand einen Spaltbreit auf. Hedda fand die Klinke und zog die Tür auf. Die Strahlen der Neonschilder fielen ins Badezimmer.
Deerslayer lag auf dem Boden, die rechte Hand im Todesgriff um eine schmutzige Toilettenschüssel verkrampft. Die Menge seiner Verletzungen war einfach unglaublich. Trocknende Blutklumpen färbten seinen Leib rostbraun. Seine Kehle war zerfetzt, und der linke Arm, der schlaff hinabhing, war zerfleischt worden.
Hedda verließ das Badezimmer wieder, sah sich genauer im Zimmer um und reimte sich zusammen, wie es geschehen war. Es waren zwischen vier und sechs Angreifer eingedrungen. Sie hatten die Tür aufgebrochen und waren schießend hereingestürmt. Trotz seiner Überraschung hatte Deerslayer erbitterten Widerstand geleistet. Die Blutspur neben dem Bett war als erste vergossen worden. Er mußte nach einer Pistole gegriffen haben, während die Kugeln der Feinde schon seinen Leib zerfetzten. Eine hatte ihn in den Hals getroffen und das Bettuch scharlachrot gefärbt. Deerslayer war wohl noch imstande gewesen, ein vollständiges Magazin auf die Angreifer abzufeuern, und nun richtete sich Heddas Aufmerksamkeit auf die dunkleren Blutflecke an der Wand neben der Eingangstür. Er hatte zwei Attentäter getötet, wahrscheinlich einen dritten verletzt und war dann, als er keine Munition mehr hatte, mit einem Messer auf sie losgegangen. Doch er war schon zu schwach gewesen, um es auch zu benutzen, und einer der Angreifer hatte es gegen ihn eingesetzt und ihm damit nach einem verzweifelten Kampf den Arm zerfleischt. Das war das Ende gewesen, und aus irgendeinem Grund hatten die Killer ihn danach ins Badezimmer gezerrt.
Hedda merkte, daß ihr Atem schnell und röchelnd ging. Deerslayer war ein Bindeglied zu den Geschehnissen, in welche die Caretakers verwickelt waren, und man hatte ihn ermordet. Sie war ebenfalls ein Bindeglied, und man hatte versucht, auch sie zu töten.
Ihre Gedanken verharrten plötzlich. Der Mord war nicht gerade sehr professionell ausgeführt worden und ziemlich unappetitlich geraten; also mußte der Zeitfaktor eine wichtige Rolle gespielt haben. Demnach waren die Attentäter sofort nach Erledigung des Auftrags mit ihren Verletzten und Toten geflohen.
Warum hatten sie sich dann die Mühe gemacht, Deerslayer noch ins Badezimmer zu zerren?
Die Antwort kam mit einem Frösteln: sie hatten ihn nicht dorthin geschleppt, das hatte er
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