Die Neunte Gewalt
Gänsehaut auf Vogelhuts Rücken verstärkte sich, und er drehte sich um. »Wer ist da?« fragte er. »Wer sind Sie?«
Er fragte sich, ob der Sprecher ihn überhaupt durch das Schreien, Jammern und Kreischen der Verlorenen verstehen konnte. Vogelhut bemühte sich, seine Angst zu verbergen, und ging langsam den Korridor bis zur Tür zurück. Dort tippte er den Kode ein.
Nichts geschah.
Er atmete tief durch und tippte die Ziffernsequenz noch einmal ein.
Die Tür öffnete sich noch immer nicht. Vogelhut hämmerte wütend dagegen.
»Ich habe den Kode umprogrammiert, Herr Doktor.«
Die bekannte Stimme erklang durch den Lautsprecher, weshalb es ihr auch mühelos gelang, die Geräusche der Irren in ihren Zellen zu übertönen.
»Wer ist da?«
»Ein alter Freund, Herr Doktor. Ich möchte eine zweite Diagnose einholen.«
»Öffnen Sie sofort die Tür!«
»Sobald wir uns unterhalten haben.«
»Wer sind …« Doch Vogelhut hatte die Stimme erkannt, noch bevor das vertraute Gesicht kurz hinter der einzigen Sichtscheibe der Tür erschien. »Kimberlain …«
»Schön, daß Sie sich an mich erinnern.«
»Lassen Sie mich hier raus!« überbrüllte Vogelhut den Lärm des Flügels der Verlorenen.
»Gern. Nachdem wir uns unterhalten haben.«
»Dafür werden Sie mir bezahlen! Bei Gott, das werden Sie noch bereuen!«
»Das glaube ich nicht, Herr Doktor. Denn wenn einer noch etwas gutzumachen hat, dann Sie. Ich weiß von dem Spiel, daß Sie seit etwa fünf Jahren treiben. Ich weiß von den vorgetäuschten Todesfällen und den Patienten, deren vorzeitige Entlassung Sie arrangiert haben.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie …«
Ein schepperndes Geräusch hallte durch den Gang.
»Ich habe gerade die Riegel der letzten vier Zellentüren geöffnet, Herr Doktor. Ihre Zöglinge werden nicht lange brauchen, bis sie begriffen haben, daß sie frei sind und ihre Zellen verlassen können.«
»Das können Sie doch nicht tun! Bitte!«
»Ich habe es schon getan. Was meinen Sie, Herr Doktor – werden Ihre Gefangenen sich freuen, Ihnen hier unten zu begegnen? Ich würde nicht gern in diesem Zellentrakt eingesperrt sein. Warten Sie mal … ja, ich glaube, eine der Türen wurde schon geöffnet.«
Vogelhut wirbelte herum und rammte die Schultern gegen die schwere Tür, drückte sich so fest dagegen, als wolle er sich hindurchschmelzen. In der Tat hatte sich die letzte Zellentür ein Stück geöffnet, und Vogelhut sah, wie eine weitere aufgeschoben wurde.
»Was wollen Sie wissen?« fragte er kläglich.
»Sie hatten damit zu tun. Sie waren darin verwickelt. Oder nicht?«
»Ich hatte keine Wahl. Das ist eine Bundesanstalt. Ich habe nur eine Anordnung der Regierung befolgt.«
»Die Regierung steckt hinter diesen vorgetäuschten Todesfällen und Freilassungen?«
»Öffnen Sie die Tür. Bitte. Ich werde Ihnen alles sagen.«
»Sie werden mir alles sagen, was Sie wissen, und dann werde ich die Tür öffnen.«
»Einer von ihnen kommt raus! Mein Gott, sehen Sie es denn nicht? Ich flehe Sie an! Das können Sie mir nicht antun!«
»Hören Sie doch auf, Zeit zu schinden, Herr Doktor. Es wird Ihnen niemand helfen. Auf den Kontrollmonitoren oben brennen nur grüne Lämpchen. Captain Seven hat mir gezeigt, wie ich die Anlage umprogrammieren mußte.«
»Er kommt zu mir! Und da ist noch einer! O Gott, da kommt noch einer!«
Auf dem Bildschirm vor ihm sah Kimberlain, wie zwei Zelleninsassen, einer groß und schlank, der andere klein und sehr dick, zögernd den Korridor entlanggingen. Sie bewegten sich, als bereite ihnen jeder Schritt Mühe, und stützten sich an den Wänden ab.
»Reden Sie!« befahl der Fährmann.
»Ja, die Regierung! Sie hat ein gewisses Projekt durchgeführt. Ich wurde davon unterrichtet, doch man hat mir längst nicht alle Einzelheiten verraten. Mein Gott, wir sprechen hier über meine Karriere. Wenn ich auspacke, bin ich erledigt.«
»Aber noch an einem Stück. Das wird nicht unbedingt der Fall sein, nachdem Sie sich mit Ihren Gästen hier unten auseinandergesetzt haben.«
»Ich weiß nicht, wofür man die Gefangenen gebraucht hat! Das ist die Wahrheit!«
»Aber Sie wußten, daß die Regierung nur ganz bestimmte Kandidaten mit einem gewissen Persönlichkeitsprofil haben wollte. Peet zum Beispiel.«
»Die Gewalttätigsten. Die Verrücktesten.«
»Aber man hat sie doch aus einem ganz bestimmten Grund hier herausgeholt.«
»Den kenne ich nicht. Sie müssen mir glauben!«
»Fahren Sie fort, Herr Doktor.«
»Was
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