Die Neunte Gewalt
Kimberlains eisblaue Augen. »Und wie bekomme ich ihn wieder heraus?«
»Indem wir ihn schnappen, Lauren. Und das werden wir.«
26
»Dr. Vogelhut, hier ist Rembart. Ich bin unten bei den Verlorenen. Sie kommen besser mal her, Sir.«
»Stimmt etwas nicht?«
»Das … müssen Sie selbst sehen.«
Der Ruf über die Gegensprechanlage erreichte den Verwaltungschef von ›The Locks‹ auf dessen routinemäßiger Morgenrunde, die ihn normalerweise nicht in den Flügel der Anstalt geführt hätte, in dem, wie Rembart sich ausgedrückt hatte, ›die Verlorenen‹ einsaßen. Die Abteilung der Verlorenen, so bezeichneten die Angestellten der Anstalt dieses Kellergeschoß, doch Vogelhut belegte es lieber mit dem Ausdruck ›Hölle‹. Dort waren jene Insassen eingesperrt, die den Kontakt zur Wirklichkeit völlig verloren hatten. Die meisten hatten sich schon bei ihrer Einlieferung in diesem Zustand befunden; ein paar hatten sich erst eine gewisse Zeit nach ihrer Einlieferung in andere Abteilungen dahingehend entwickelt. So oder so, die Insassen dieses Flügels waren tatsächlich verloren und vergessen. Eine Berufung gab es für sie nicht. Kein Anwalt hielt Kontakt mit ihnen, und kein Psychiatriestudent zog sie als Fallbeispiele für seine Doktorarbeit heran.
Kaum hatte Dr. Vogelhut den Fahrstuhl verlassen, hörte er auch schon die Geräusche der Insassen. Schreie und Rufe, in das sich verzweifeltes Heulen und Jammern mischte. Er vernahm Geräusche, die von Tieren zu stammen schienen, und lautes, wütendes Schluchzen. Ein regelmäßiges Pochen verkündete davon, daß sich einer der Zelleninsassen immer wieder gegen die Tür warf.
Vogelhut atmete tief durch und ging den Korridor entlang zu der Überwachungsstation; wie in jedem anderen Stockwerk befand sich auch hier eine. Sie sah jedoch völlig anders aus als die im Hochsicherheitstrakt. Sie verfügte lediglich über einen einzigen Videoüberwachungsmonitor und nur eine Gegensprechanlage. Daneben befand sich das Schaltbrett mit dem man die Türen dieser Abteilung bedienen konnte. Auf jegliches Schmuckwerk hatte man verzichtet; im Flügel der Verlorenen war es so überflüssig wie in der Hölle selbst. Vogelhut wandte sich am Ende des Gangs nach links und betrat den Überwachungsraum.
Er war leer. Der einzige Stuhl stand ein Stück vor dem Bildschirm.
Durch die Glasscheibe sah er, daß eine Tür auf dem langen, schnurgeraden Gang des Flügels geöffnet war. Verdammt! Hielt sich denn keiner mehr an die Vorschriften? Vogelhut beugte sich vor und schaltete das Mikrofon ein.
»Rembart, hier ist Dr. Vogelhut«, rief er in der Hoffnung, seine Stimme würde die Geräusche der Gefangenen übertönen. »Sind Sie da? Was ist hier los?«
Er konnte seine eigenen, im Gang laut hallenden Worte nicht verstehen und versuchte es noch einmal. Als Rembart noch immer nicht antwortete, entschloß er sich, selbst nachzusehen. Offensichtlich war mit dem Gefangenen in der Zelle, deren Tür aufstand, etwas nicht in Ordnung. Wenn er die Sicherheitskräfte hinabrief, würde er wieder einen Bericht schreiben müssen. Nach der Massenflucht vor nicht einmal zwei Wochen kam ihm ein neuer Zwischenfall so gelegen wie ein Kropf. Vogelhut begann allmählich um seine Stellung zu fürchten. Wenn man einen Sündenbock brauchte, war er die logische Wahl. Vogelhut würde alles verlieren.
Er gab über die Tastatur den richtigen Kode ein, und die Tür zur Abteilung der Verlorenen glitt auf. Er trat hindurch und verriegelte sie hinter sich wieder. Augenblicklich überkam ihn ein Frösteln. Die irren Geräusche der hoffnungslos Verrückten kratzten, nicht mehr von der Tür und den Mauern gedämpft, an seinen Trommelfellen. An diese Geräusche würde er sich niemals gewöhnen, ganz gleich, wie oft er sie vernahm. Gleichzeitig schlug ein beißender Gestank auf ihn ein: Fäkalien und Urin, Erbrochenes und der abgestandene Geruch ungewaschener Körper. Vogelhut konzentrierte sich auf das Echo seiner Schritte, als er direkt auf die Zellentür zuging, die die Wachen aus irgendeinem Grund offen gelassen hatten.
»Rembart? Rembart, ich bin es. Was ist da lo …«
Als Vogelhut die Tür erreichte und in die Zelle spähte, verschluckte er den Rest des Satzes. Rembart und die beiden anderen Wachposten lagen, gemeinsam mit dem Zelleninsassen, bewußtlos und mit gefesselten Händen und Füßen auf dem Boden. Vogelhut trat einen Schritt zurück, und eine Stimme hallte durch den Gang.
»Guten Morgen, Herr Doktor.«
Die
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