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Die Neunte Gewalt

Titel: Die Neunte Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Land
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vielleicht wahrnehmen, doch sie hatte keine Auswirkungen auf sie.
    Er sah in ihrer Hilflosigkeit eine Metapher für die anderen Opfer, die er genommen hatte. Keiner hatte eine Chance gegen ihn gehabt, doch für sie war es viel schlimmer gewesen, weil sie begreifen konnten, wie ihnen geschah. Tiny Tim schritt die Reihen der Krippen auf und ab, überzeugt, daß der Tod für diese Babys keine Bedeutung hatte, da sie das Leben noch nicht zusammenhängend und in sich geschlossen wahrnehmen konnten.
    Jetzt schienen ein paar mehr zu weinen. Er fragte sich, ob der Geruch des Blutes sie irgendwie geweckt hatte. Hatten ihnen ein paar grundlegende Urinstinkte verraten, daß das Blut ihrer Mütter an seiner Kleidung klebte? Aufgrund der Umstände hatte es sich nicht vermeiden lassen, sich mit ihrem Blut zu beflecken.
    Bis zu diesem Augenblick hatte Tiny Tim in Erwägung gezogen, die Neugeborenen einfach zu ignorieren, da ihre völlige Gleichgültigkeit ihm keine Befriedigung bot. Doch nun sah er sie lediglich als Fortsetzung der Arbeit, die er in den benachbarten Zimmern getan hatte. Wenn sie am Leben blieben, konnte er sein Werk nicht als abgeschlossen betrachten.
    »Wir wissen nicht genau, ob er zuerst hierher oder zu den Müttern ging«, sagte Lauren Talley, als die Säuglingsstation in Sicht kam.
    »Zuerst die Mütter. Er wollte die Ordnung der Dinge bewahren. Sie haben Sie nicht betreten, oder? Die Zimmer der Mütter, meine ich.«
    »Nein. Ich … konnte es nicht.«
    »Er wird bei ihnen ein Messer benutzt haben. Er hat sie genau dort geöffnet, wo die Babys herausgekommen waren, um den Kanal des Lebens selbst zu attackieren.«
    »Ja«, murmelte Lauren Talley und schluckte hart.
    »Wie mächtig er sich dabei fühlte«, fuhr Kimberlain fort. »Als habe er die Macht, das Leben zu spenden.«
    »Den Tod, meinen Sie.«
    »Das macht für Tiny Tim keinen Unterschied. Verstehen Sie, der Tod ist das Leben; zumindest kann er das nur auf diese Art und Weise akzeptieren. Ordnung und Präzision. Alles im Gleichgewicht.«
    »Ist er sich dieser Gedanken bewußt?«
    »Genauso wenig wie wir anderen. Wir sind, was wir sind. Tiny Tim tötet, weil er sich dann stärker fühlt, unbesiegbar. Er hat keinen Grund zur Annahme, jemand könne ihn aufhalten, und so ist seine Ordnung der Dinge die einzige, die er akzeptieren muß.«
    Die Säuglingsstation lag auf der linken Seite des Gangs; in die Wand waren zahlreiche Fenster eingelassen. Das Licht brannte noch. Als Kimberlain weiterging, glaubte er, das Blut stocke ihm in den Adern, und sein Atem bilde einen großen Klumpen mitten in der Kehle.
    Die Säuglingsstation war … leer. Das war alles, was er sagen konnte. Die kleinen Betten waren leer, die Laken kaum zerwühlt. Alles wirkte ungestört, fast jungfräulich rein. Selbst die Namensschilder an den Bettchen waren unberührt.
    »Die Neugeborenen«, murmelte Kimberlain.
    »Wir haben sie alle unverletzt gefunden. Wir wissen, daß er hier war, aber er hat sie nicht getötet. Vielleicht eine Spur von Menschlichkeit. Vielleicht sind sogar diesem Ungeheuer Grenzen gesetzt.«
    Der Fährmann schritt langsam zwischen den leeren Betten durch den Raum. »Nein«, sagte er geistesabwesend. »Tiny Tim war drauf und dran, sie zu töten, doch dann hat er etwas gehört.« Er drehte sich zu Lauren Talley um. »Etwas hat ihn aufgeschreckt.«
    Sie blätterte fieberhaft ihr Notizbuch durch. »Ja, hier steht es. In der Intensivstation gab es einen Notfall. Ein Verbandswagen kippte um und riß ein paar Tabletts mit Flaschen um. Ziemlich viel Lärm.«
    »Der Tiny Tim abgelenkt hat. Er wandte sich in diese Richtung.«
    »Abwärts« bestätigte sie. »In den ersten Stock.«
    Der Lärm von unten hatte Tiny Tim aufgeschreckt, als er gerade seine Arbeit in der Säuglingsstation beginnen wollte. Hatte jemand die Spuren seines Werks in den oberen Stockwerken entdeckt und die Nachricht voller Panik verbreitet? Dieses Risiko konnte er nicht eingehen. Ein Strategiewechsel war unumgänglich.
    Doch als er aus dem Treppenhaus in den ersten Stock spähte, begriff er, daß der Lärm ganz andere Ursachen haben mußte. Niemand lief aufgescheucht umher. Die Leute gingen einfach ihrer Arbeit nach.
    Diese Etage würde die größte Herausforderung für ihn darstellen. Hier befand sich nicht nur die Intensivstation, sondern auch die Cafeteria und der Aufenthaltsraum der Ärzte, in dem die Bereitschaftskräfte schliefen und bei einem Notfall alarmiert wurden. Eine Menge einzelner Räume, in

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