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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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eindringen konnte, ein mysteriöses Zentrum im Verborgenen. Ihn nachahmen hieß irgendwie an diesem Geheimnis teilhaben, aber es hieß auch einsehen, dass man ihn nie wirklich kennen konnte.
    Ich spreche von unserer sehr frühen Kindheit – als wir fünf, sechs, sieben Jahre alt waren. Vieles davon ist jetzt vergessen, und ich weiß, dass auch Erinnerungen falsch sein können. Dennoch glaube ich nicht, dass ich mich irre, wenn ich sage, dass ich die Atmosphäre jener Tage in mir bewahrt habe, und soweit ich nachempfinden kann, was ich damals fühlte, glaube ich nicht, dass diese Gefühle täuschen können. Was immer aus Fanshawe schließlich wurde, war nach meinem Empfinden schon damals angelegt. Er entwickelte sich sehr rasch, war schon eine Persönlichkeit, als wir anfingen zur Schule zu gehen. Fanshawe war sichtbar, während wir anderen formlose Geschöpfe waren, in ständigem Aufruhr, blind von einem Augenblick zum nächsten tappend. Ich will damit nicht sagen, dass er schnell heranreifte – er sah nie älter aus, als er war –, sondern dass er schon er selbst war, bevor er heranreifte. Aus dem einen oder anderen Grunde war er nicht den gleichen Umwälzungen unterworfen wie wir anderen alle. Seine Dramen waren von einer anderen Art – innerlicher, zweifellos brutaler –, aber ohne die abrupten Veränderungen, die das Leben aller anderen unterbrachen.
    Einen Zwischenfall habe ich besonders lebhaft vor Augen, eine Geburtstagsparty, zu der Fanshawe und ich eingeladen waren, als wir in die erste oder zweite Klasse gingen, das heißt gerade zu Beginn der Periode, über die ich mit einiger Genauigkeit sprechen kann: Es war ein Samstagnachmittag im Frühling, und wir gingen mit einem anderen Jungen zu der Party, einem Freund von uns, der Dennis Walden hieß. Dennis hatte ein viel schwereres Leben als wir beide: eine trinkende Mutter, einen überarbeiteten Vater, zahllose Brüder und Schwestern. Ich war zwei- oder dreimal in seinem Haus gewesen – einem großen, dunklen, verfallenen Gebäude –, und ich kann mich erinnern, dass mir seine Mutter Angst machte und mich an eine Hexe aus dem Märchen denken ließ. Sie verbrachte den ganzen Tag hinter der verschlossenen Tür ihres Zimmers, immer im Bademantel, ihr Gesicht war voller Runzeln, und ab und zu streckte sie den Kopf heraus, um den Kindern etwas zuzuschreien. Am Tag der Party waren Fanshawe und ich mit Geschenken für das Geburtstagskind ausgestattet worden, die in buntem Papier verpackt und mit Bändern zugeschnürt waren. Dennis hatte jedoch nichts, und er litt darunter. Ich erinnere mich, dass ich ihn mit leeren Phrasen zu trösten versuchte: es spiele keine Rolle, niemandem mache es wirklich etwas aus, in dem ganzen Durcheinander würde es nicht bemerkt werden. Aber es machte Dennis etwas aus, und das war es, was Fanshawe sofort verstand. Ohne eine Erklärung wandte er sich Dennis zu und gab ihm sein Geschenk. «Hier», sagte er, «nimm das, ich werde sagen, ich hätte meines zu Hause gelassen.» Zuerst dachte ich, Dennis würde ihm die Geste übelnehmen, er würde sich durch Fanshawes Mitleid gekränkt fühlen. Aber ich irrte mich. Er zögerte einen Augenblick, versuchte, diese plötzliche Wendung zu begreifen, und nickte dann, wie um die Weisheit dessen anzuerkennen, was Fanshawe getan hatte. Es war nicht so sehr ein Akt der Barmherzigkeit als vielmehr ein Akt der Gerechtigkeit, und aus diesem Grunde konnte ihn Dennis annehmen, ohne sich gedemütigt zu fühlen. Das eine war in das andere verwandelt worden. Es war ein Stück Magie, eine Mischung aus Lässigkeit und tiefer Überzeugung, und ich bezweifle, dass es ein anderer als Fanshawe fertiggebracht hätte.
    Nach der Party ging ich mit Fanshawe zu ihm nach Hause. Seine Mutter war da, sie saß in der Küche und fragte uns, wie die Party gewesen sei und ob dem Jungen das Geschenk gefallen habe. Bevor Fanshawe dazu kam, etwas zu sagen, platzte ich mit der Geschichte heraus und erzählte, was er getan hatte. Ich hatte nicht die Absicht, ihn in Schwierigkeiten zu bringen, aber es war mir unmöglich, es für mich zu behalten. Fanshawes Geste hatte eine ganz neue Welt für mich eröffnet: die Art, wie jemand sich in die Gefühle eines anderen hineinversetzen und sie so völlig annehmen kann, dass seine eigenen nicht mehr wichtig sind. Es war die erste wirklich moralische Tat, die ich erlebt hatte, und sie war es wert, dass man darüber redete. Fanshawes Mutter war jedoch nicht so begeistert. Ja, sagte sie,

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