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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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der Neuen Welt aufzunehmen. Es würde einen Raum für jeden Menschen geben, und sobald er ihn betrat, würde er alles vergessen, was er jemals wusste. Nach vierzig Tagen und vierzig Nächten würde ein neuer Mensch hervortreten, der Gottes Sprache redete und bereit war, das zweite, immerwährende Paradies zu bewohnen.
    So endete Stillmans Zusammenfassung der Schrift Henry Darks mit dem Datum des 20. Dezember 1960, des siebzigsten Jahrestages der Landung der «Mayflower».
    Quinn stieß einen kleinen Seufzer aus und schloss das Buch. Der Leseraum war leer. Er beugte sich vor, stützte den Kopf in die Hände und schloss die Augen. «Neunzehnhundertsechzig», sagte er laut. Er versuchte, ein Bild von Henry Dark heraufzubeschwören. Vergeblich. Er sah im Geiste nur Feuer, eine Hölle brennender Bücher. Dann verlor er die Spur seiner Gedanken und den Ort, an den sie ihn geführt hatten, und erinnerte sich plötzlich, dass 1960 das Jahr war, in dem Stillman seinen Sohn eingesperrt hatte.
    Er schlug das rote Notizbuch auf und legte es auf seine Knie. Gerade als er zu schreiben beginnen wollte, fand er, dass er genug von alledem hatte. Er schloss das rote Notizbuch wieder, stand aus seinem Sessel auf und legte Stillmans Buch auf den vordersten Tisch. Am Fuße der Treppe zündete er sich eine Zigarette an, dann verließ er die Bibliothek und ging in den Mainachmittag hinaus.

Siebentes Kapitel
    E r war lange vor der Zeit in der Grand Central Station. Stillmans Zug sollte erst um achtzehn Uhr einundvierzig ankommen, aber Quinn wollte die Gegebenheiten des Ortes studieren und dafür sorgen, dass ihm Stillman nicht entwischen konnte. Als er aus der U-Bahn heraufkam und die große Halle betrat, sah er auf der Uhr, dass es gerade erst vier vorbei war. Der Bahnhof füllte sich allmählich schon mit der Menschenmenge der Stoßzeit. Quinn bahnte sich seinen Weg gegen den Druck der hereinströmenden Körper, ging an den nummerierten Eingängen entlang und suchte nach verborgenen Treppen, nicht gekennzeichneten Ausgängen und dunklen Nischen. Er kam zu dem Schluss, dass sich ein Mann, der zu verschwinden entschlossen war, keine große Mühe zu geben brauchte. Er musste darauf hoffen, dass Stillman nicht vor ihm gewarnt worden war. Wenn das der Fall war und es Stillman gelang, ihm auszuweichen, so würde das bedeuten, dass Virginia Stillman dafür verantwortlich war. Sonst kam niemand in Betracht. Es tröstete ihn zu wissen, dass er einen alternativen Plan hatte, falls etwas dergleichen geschehen sollte. Wenn Stillman nicht erschien, wollte Quinn geradewegs in die 69th Street fahren und Virginia Stillman mit dem konfrontieren, was er wusste.
    Während er durch den Bahnhof ging, erinnerte er sich selbst daran, wer er angeblich war. Er merkte allmählich, dass es keineswegs unangenehm war, Paul Auster zu sein. Obwohl er noch denselben Körper, denselben Verstand, dieselben Gedanken hatte wie sonst, war ihm zumute, als wäre er irgendwie aus sich selbst herausgenommen worden, als müsste er nicht mehr die Last seines eigenen Bewusstseins tragen. Durch einen einfachen Gedankentrick, eine geschickte kleine Namensänderung fühlte er sich unvergleichlich leichter und freier. Gleichzeitig wusste er, dass alles nur eine Illusion war. Aber darin lag ein gewisser Trost. Er hatte sich nicht wirklich verloren, er tat nur so, als ob, und er konnte wieder Quinn werden, wann immer er wollte. Die Tatsache, dass er als Paul Auster einen Zweck verfolgte – einen Zweck, der für ihn immer wichtiger wurde –, diente als eine Art moralischer Rechtfertigung für die Scharade und befreite ihn davon, seine Lüge verteidigen zu müssen. Denn sich als Auster vorzustellen, bedeutete nun in seinen Gedanken so viel wie Gutes auf der Welt tun.
    Er ging also durch den Bahnhof, als befände er sich im Körper Paul Austers, und wartete auf das Erscheinen Stillmans. Er sah zu der gewölbten Decke der Halle hinauf und studierte das Fresko der Sternbilder. Glühbirnen stellten die Sterne dar und waren durch Strichzeichnungen zu den himmlischen Bildern verbunden. Quinn war nie imstande gewesen, den Zusammenhang zwischen den Sternbildern und ihren Namen zu begreifen. Als Junge hatte er viele Stunden unter dem Nachthimmel verbracht und versucht, die Haufen von hellen Nadelstichen mit den Formen von Wagen, Stier, Schütze und Wasserträger in Übereinstimmung zu bringen. Aber es war nie etwas dabei herausgekommen, und er hatte das Gefühl gehabt, dumm zu sein, so als

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