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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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gäbe es einen blinden Fleck mitten in seinem Hirn. Er fragte sich, ob es dem jungen Auster besser ergangen war als ihm.
    Auf der anderen Seite war, auf dem größeren Teil der Ostwand der Bahnhofshalle, das Kodak-Schaufoto mit seinen brillanten, übernatürlichen Farben zu sehen. Es zeigte in diesem Monat eine Straße in einem Fischerdorf in Neuengland, vielleicht Nantucket. Ein warmes Frühlingslicht schien auf die Pflastersteine, Blumen in vielen Farben standen in den Kästen vor den Fenstern längs der Häuserfronten, und ganz unten am Ende der Straße war das Meer mit seinen weißen Schaumkronen und dem tiefblauen Wasser. Quinn erinnerte sich, dass er Nantucket vor langer Zeit mit seiner Frau zusammen besucht hatte, im ersten Monat ihrer Schwangerschaft, als sein Sohn nicht mehr als eine winzige Mandel in ihrem Schoß war. Er empfand es als schmerzhaft, jetzt daran zu denken, und er versuchte, die Bilder zu unterdrücken, die sich in seinem Kopf formten. «Sieh es mit Austers Augen», sagte er sich, «und denke an nichts anderes.» Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Fotografie und stellte erleichtert fest, dass seine Gedanken zum Thema Wale abwanderten, zu den Fangexpeditionen, die im vorigen Jahrhundert von Nantucket ausgingen, zu Melville und den ersten Seiten eines Moby Dick . Von dort aus trieben sie ab zu den Schilderungen, die er über Melvilles letzte Jahre gelesen hatte – der schweigsame alte Mann, der im New Yorker Zollamt arbeitete, ohne Leser, von allen vergessen. Dann sah er plötzlich mit großer Klarheit und Präzision Bartlebys Fenster und die unverputzte Ziegelmauer vor sich.
    Jemand berührte seinen Arm, und als Quinn herumfuhr, um den Angriff abzuwehren, sah er einen kleinen stillen Mann, der ihm einen grün-roten Kugelschreiber entgegenhielt. An diesen angeheftet war eine kleine weiße Papierfahne, auf deren einer Seite stand: «Dieser gute Artikel ist eine kleine Aufmerksamkeit eines TAUBSTUMMEN. Geben Sie dafür, was Sie wollen. Danke für Ihre Hilfe.» Auf der anderen Seite der Fahne war das Taubstummenalphabet – LERNE, MIT DEINEN FREUNDEN ZU SPRECHEN – abgedruckt, das die Handhaltungen für jeden der sechsundzwanzig Buchstaben zeigte. Quinn griff in die Tasche und gab dem Mann einen Dollar. Der Taubstumme nickte einmal kurz und ging weiter, und Quinn stand mit dem Kugelschreiber in der Hand da.
    Es war nun fünf Uhr vorüber. Quinn fand, dass er an einem anderen Ort geschützter sei, und ging in den Wartesaal. Der war im Allgemeinen ein hässlicher Raum voller Staub und Menschen, die nicht wussten, wohin, aber nun, auf dem Höhepunkt der Stoßzeit, war er von Männern und Frauen mit Handkoffern, Büchern und Zeitungen eingenommen worden. Quinn hatte Mühe, einen Platz zu bekommen. Nachdem er zwei oder drei Minuten gesucht hatte, fand er endlich einen Sitz auf einer der Bänke und quetschte sich zwischen einen Mann in einem blauen Anzug und eine plumpe, junge Frau. Der Mann las den Sportteil der Times , und Quinn warf einen Blick hinein, um den Bericht über die Niederlage der Mets am Vorabend zu lesen. Er kam bis zum dritten oder vierten Absatz, dann wandte sich der Mann langsam ihm zu, starrte ihn böse an und entfernte die Zeitung mit einem Ruck aus seinem Blickfeld.
    Danach geschah etwas Seltsames. Quinn wandte seine Aufmerksamkeit der jungen Frau zur Rechten zu, um zu sehen, ob es in dieser Richtung irgendeinen Lesestoff gab. Er schätzte sie auf etwa zwanzig Jahre. Sie hatte mehrere Pickel auf ihrer linken Wange, die mit einer billigen blassrosa Schminke überdeckt waren, und in ihrem Mund quietschte ein Stück Kaugummi. Sie las jedoch ein Buch, ein Taschenbuch mit einem grellbunten Umschlag, und Quinn lehnte sich ganz leicht nach rechts, um einen Blick auf den Titel zu erhaschen. Wider alle seine Erwartungen war es ein Buch, das er selbst geschrieben hatte – Suicide Squeeze von William Wilson, der erste der Max-Work-Romane. Quinn hatte sich diese Situation oft vorgestellt: das plötzliche, unerwartete Vergnügen, einem seiner Leser zu begegnen. Er hatte sich sogar das Gespräch ausgemalt, das sich ergeben würde: Er verhält sich höflich, befangen, während der Fremde das Buch lobt, und willigt dann zögernd und mit großer Bescheidenheit ein, sein Autogramm auf das Titelblatt zu schreiben – «Da Sie darauf bestehen». Aber nun, da die Szene wirklich stattfand, war er enttäuscht, ja verärgert. Er mochte das Mädchen nicht, das da neben ihm saß, und es

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