Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen
kränkte ihn, dass sie so gleichgültig die Seiten überflog, die ihn so viel Mühe gekostet hatten. Am liebsten hätte er ihr das Buch aus der Hand gerissen und wäre damit durch den Bahnhof gelaufen.
Er betrachtete noch einmal ihr Gesicht, versuchte die Worte zu hören, die sich in ihrem Kopf bildeten, und beobachtete ihre Augen, die über die Seite hin und her gingen. Er musste sie zu auffällig angestarrt haben, denn einen Augenblick später wandte sie sich ihm mit einer irritierten Miene zu und sagte: «Haben Sie ein Problem, Mister?»
Quinn lächelte schwach. «Kein Problem», sagte er. «Ich fragte mich nur, ob Ihnen das Buch gefällt.»
Das Mädchen zuckte die Schultern. «Ich habe Besseres und ich habe Schlechteres gelesen.»
Quinn wollte damit das Gespräch beenden, aber etwas in ihm ließ nicht locker. Bevor er aufstehen und gehen konnte, kamen die Worte auch schon aus seinem Mund: «Finden Sie es spannend?»
Das Mädchen zuckte wieder die Schultern und kaute laut auf seinem Gummi. «Irgendwie schon. Da gibt es eine Stelle, wo sich der Detektiv verirrt, die ist ein bisschen unheimlich.»
«Ist der Detektiv schlau?»
«Ja, schlau ist er. Aber er redet zu viel.»
«Sie hätten gern mehr Handlung?»
«Ich denke, ja.»
«Warum lesen Sie weiter, wenn es Ihnen nicht gefällt?»
«Ich weiß nicht.» Das Mädchen zuckte noch einmal die Schultern. «Es vertreibt einem die Zeit, denke ich. Jedenfalls ist es keine große Sache. Eben nur ein Buch.»
Er wollte ihr schon sagen, wer er war, aber dann wurde ihm klar, dass das nichts ändern würde. Das Mädchen war ein hoffnungsloser Fall. Fünf Jahre lang hatte er William Wilsons Identität geheim gehalten, und er dachte nicht daran, sie jetzt preiszugeben, am wenigsten einer schwachsinnigen Fremden. Dennoch war es schmerzlich, und er rang verzweifelt mit seinem gekränkten Stolz. Anstatt das Mädchen ins Gesicht zu schlagen, stand er mit einem Ruck auf und ging.
Um achtzehn Uhr dreißig stellte er sich vor dem Ausgang 24 auf. Der Zug sollte pünktlich ankommen, und Quinn fand, dass er auf seinem Beobachtungsposten in der Mitte des Ausgangs eine gute Chance hatte, Stillman zu sehen. Er nahm das Foto aus der Tasche und studierte es wieder, wobei er besonders auf die Augen achtete. Er erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, dass die Augen der Teil des Gesichtes sind, der sich nie verändert. Von der Kindheit bis ins hohe Alter bleiben sie gleich, und jemand, der den Blick dafür hat, könnte theoretisch in die Augen eines Jungen auf einem Foto sehen und dieselbe Person als alten Mann wiedererkennen. Quinn hatte seine Zweifel, aber das Foto war alles, woran er sich halten konnte, seine einzige Brücke zur Gegenwart. Doch wieder sagte ihm Stillmans Gesicht nichts.
Der Zug fuhr ein, und Quinn fühlte den Lärm durch seinen Körper schießen: ein zielloses, hektisches Getöse, das sich mit seinem Puls zu verbinden schien und sein Blut in rauen Stößen pumpte. Dann füllte sich sein Kopf mit Peter Stillmans Stimme, ein Sperrfeuer von sinnlosen Wörtern, das gegen die Wände seines Schädels prasselte. Er ermahnte sich, ruhig zu bleiben, aber das half ihm wenig. Er war erregt, auch wenn er darauf in diesem Moment nicht gefasst war.
Der Zug war gedrängt voll, und als die Fahrgäste den Bahnsteig füllten und auf ihn zukamen, sah er einer Menschenmenge entgegen. Quinn schlug das rote Notizbuch nervös gegen seinen rechten Schenkel, stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte in die Menge. Bald war er von Menschen umgeben. Männer kamen und Frauen, Kinder und alte Menschen, Teenager und Babys, reiche Leute, arme Leute, schwarze Männer und weiße Frauen, weiße Männer und schwarze Frauen, Asiaten und Araber, Männer in Braun und Grau und Blau und Grün, Frauen in Rot und Weiß und Gelb und Rosa. Kinder in Segeltuchschuhen, Kinder in Lederschuhen, Kinder in Cowboystiefeln, dicke Menschen und dünne Menschen, große Menschen und kleine Menschen, jeder anders als alle anderen, jeder unwandelbar er selbst. Quinn, der sich nicht von der Stelle rührte, beobachtete sie alle, so als wäre sein ganzes Wesen in die Augen gebannt. Jedes Mal, wenn ein älterer Mann nahte, machte er sich darauf gefasst, Stillman zu sehen. Sie kamen und gingen zu rasch, als dass er sich der Enttäuschung hätte überlassen können, aber in jedem alten Gesicht schien er ein Vorzeichen des Aussehens des wirklichen Stillman zu finden, und er änderte rasch seine Erwartungen mit jedem neuen
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