Die Nibelungen neu erzählt
werde diese ungeformte Kraft formen können, werde sie für seine Zwecke formen können.
Dabei muß gesagt werden, daß Hagen unter seinen Zwecken durchaus das Wohl des Ganzen verstand. Alles, was er tat, sollte der Sicherheit und der Stärke Burgunds dienen. Hagen war, das muß betont werden, ein durch und durch loyaler Mann. Er hielt sich für einen Menschenfreund. Und daß er Siegfried formen wollte, hieß für ihn nichts anderes, als daß er ihn kultivieren wollte, was doch in erster Linie Siegfried selbst zugute käme und erst in zweiter Linie der Politik – und erst in dritter Linie ihm, Hagen. Denn die Politik in Worms, das war nun einmal Hagen, und das war gut so, das hatte das Burgundenreich bisher davor bewahrt, von machtlüsternen Nachbarn kassiert zu werden.
Bereits am darauffolgenden Tag lud Hagen Siegfried zu einem Ritt in die Umgebung von Worms ein.
Er gab sich vertraulich, sagte: »Mit Kriemhild ist es äußerst kompliziert, sie ist sehr anspruchsvoll. Da kann einer nicht einfach hingehen und sagen: Ich will dich! Das führt bei ihr zu keinem guten Ende. Mit dem Groben, dem Brachialen kommt man bei dieser Frau nicht ans Ziel. Man muß sich auf das Feine verstehen.«
Das gefiel Siegfried, nicht anders hatte sein Lehrherr Mime zu ihm gesprochen.
»Das ist gut«, sagte er. »Was also soll ich tun? Ratet mir!«
Und Hagen fragte: »Wollt Ihr wirklich, daß ich Euch berate?«
»Das will ich gern«, sagte Siegfried.
»Ich sehe«, sagte Hagen, »Ihr seid ein kluger Mann. Aber Ihr seid noch jung. Ihr seid ein starker Mann. Aber eure Stärke muß gelenkt werden. Wollt Ihr, daß ich Euch helfe, hier in Worms zurechtzukommen?«
»Das will ich«, sagte Siegfried.
»Gut«, sagte Hagen. »Als erstes braucht Ihr Zeit. Ihr braucht viel, viel Zeit. Ihr könnt hier am Hof bleiben, solange Ihr wollt, das hat Gunther versprochen. Ich werde derweil mit Kriemhild reden.«
So gewann Hagen Siegfrieds Vertrauen.
Und er ging auch zu Kriemhild und sprach mit ihr über Siegfried. Er glaubte keinen Grund zu haben, an ihrem Schwur, unverheiratet zu bleiben, zu zweifeln.
Er sagte: »Kriemhild, seht ihn Euch wenigstens an! Er ist anders als die anderen.«
Sie sagte: »Ach, Hagen, das habt Ihr schon so oft gesagt.«
Er sagte: »Ja, aber diesmal ist es wahr, diesmal ist es wirklich wahr!«
Kriemhild: »Auch das sagt ihr immer wieder, mein treuer Hagen.«
Da seufzte Hagen und spielte den Resignierten. »Ich will doch nur, daß Ihr glücklich seid«, sagte er. Und das wollte er ja auch.
So glaubte Hagen, alles verlaufe nach seinen Plänen.
Siegfried war am Hof zu Worms ein gerngesehener Gast. Er war freundlich zu allen. Von seinem ersten Auftritt und seinem Vorschlag eines Zweikampfs gegen Gunther war bald nicht mehr die Rede. Siegfried entschuldigte sich bei Gunther, sagte, er sei eben manchmal vielleicht etwas zu direkt, rede vom Töten, wenn er nur Raufen meine, und so weiter.
Siegfried gab Gunther das Gefühl, daß er ihn schätzte, und das tat Gunther gut. In Anwesenheit von Hagen fühlte sich Gunther immer unbequem, angespannt, hatte Angst, etwas Falsches zu sagen, bildete sich ein, Hagen verachte ihn heimlich – was Hagen ja auch tat. Wenn er dagegen mit Siegfried zusammen war, dann fühlte sich Gunther erhoben, geschätzt, bewundert sogar. Siegfried behandelte ihn wie einen König, ohne jede Verachtung, ohne jeden Hintergedanken. Erst in Siegfrieds Anwesenheit war Gunther der König. Das tat Gunther gut.
Und bald traute sich Gunther, Entscheidungen zu treffen, ohne Hagen vorher zu fragen. Am Anfang wandte er sich ja noch an Siegfried, wollte erst dessen Meinung hören, ehe er sich offiziell zu Wort meldete.
Aber Siegfried sagte nur: »Ihr seid der König, Gunther. Was immer Ihr verkündet, es wird respektiert. Weil es respektiert werden muß. Weil Ihr der König seid.«
Das tat Gunther gut.
Hagen dagegen beobachtete diese Entwicklung mit Mißtrauen und Sorge. Er dachte sich: Na ja, wenn es mir nicht gelingen sollte, diesen Siegfried ganz in meine Hand zu kriegen, dann muß ich einen Weg finden, wie ich ihn loswerden kann. – Und dieser Gedanke war in erster Linie von der Sorge um seine Macht getragen und erst in zweiter Linie von der Sorge um Burgund …
Krieg!
Dann eines Tages hieß es: Krieg! Es war geschehen, was immer befürchtet worden war. Die Könige Lüdegast von Dänemark und Lüdeger von Sachsen hatten sich zusammengetan, hatten ihre gegenseitigen Feindseligkeiten begraben und hatten
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