Die Nibelungen neu erzählt
niedergerungen hat.
Die Ritter überwältigen den Zwerg Alberich, der das Gold bewacht, und Hagen von Tronje reißt den Schatz der Nibelungen an sich. Und er versenkt ihn im Rhein.
Und wieder wundern wir uns. Warum hat Hagen den Schatz nicht behalten? Pflegte auch er inzwischen den reinen Haß, der kein Motiv von außen gelten läßt, der nur um seiner selbst willen bestehen will? Wir wissen es nicht.
Als Kriemhild vom Raub des Goldes hört, reagiert sie nicht. Sie bleibt stumm. Sie bleibt in ihrem Turm.
Sie wird schon zu ihren Lebzeiten eine legendäre Figur: die schöne, einsame Witwe, die in einem Turm haust und mit niemandem spricht.
König Etzel von Ungarn
Die Geschichte von der schönen, einsamen Witwe im Burgundenreich wird in ganz Europa erzählt, so auch in Ungarn. Dort regiert der Hunnenkönig Etzel.
Etzel schickt einen Boten nach Worms, einen Mann, den Kriemhild gut kennt, den Markgrafen Rüdiger von Bechelaren, einst ein Vertrauter ihrer Eltern. Er soll für König Etzel um die Hand der Kriemhild anhalten.
Er soll sagen: »Der König Etzel von Ungarn will Euch heiraten, er möchte Euch aus Eurem Leid befreien.«
Niemand gibt dem Anliegen des Hunnenkönigs eine Chance. Aber wiederum überrascht Kriemhild alle. Sie sagt zu, sie stimmt in diese Heirat ein. Sie will nach Ungarn ziehen.
Gunther fällt ein Stein vom Herzen. Auch Hagen ist froh, daß Kriemhild Worms verläßt. Es wird ein kleines Heer ausgestattet, das sie begleiten und auf der Reise schützen soll. Von Ungarn bricht Etzel auf. In Wien treffen sich die beiden, in Wien wird Hochzeit gefeiert. Kriemhild mit versteinertem Gesicht. Dann folgt sie ihrem neuen Mann nach Ungarn.
Kriemhild bringt Etzel einen Sohn zur Welt. Es vergehen die Jahre.
Es scheint, als hätte sie ihren Kummer vergessen, als sei der Baum des Hasses verdorrt.
Dann eines Tages sagt sie zu ihrem Mann, sie möchte noch einmal ihre Brüder sehen. Man solle doch die Brüder nach Ungarn einladen.
Etzel kommt ihrem Wunsch gern nach. Boten werden nach Worms geschickt, der Adel von Burgund wird nach Ungarn eingeladen.
Gunther, Giselher und Gernot nehmen die Einladung an. Der Hofstaat von Worms macht sich auf den weiten Weg nach Ungarn – auch Hagen von Tronje ist dabei.
Wir dürfen ruhig glauben, daß Gunther, Giselher und Gernot in den vergangenen Jahren zur Ansicht gekommen waren, Kriemhild habe sich beruhigt, sie habe inzwischen gelernt, Siegfrieds Ermordung als Schlag des Schicksals zu deuten, und sie habe sich in ihr Schicksal gefügt, sie trage tatsächlich niemandem mehr etwas nach. Die drei Könige hatten ihr Leben unter das Motto gestellt, daß, wenn nichts passiert, nichts passiert, und sie verließen sich darauf, daß auch weiter nichts passieren wird, wenn man den Dingen nur ihren Lauf ließ.
Hagen allerdings hatte nie nach solchen Maximen gelebt, und die Mechanismen des Hasses kannte er nur zu gut. Glaubte auch er, Kriemhild habe ihm und Gunther vergeben? Nein! Glaubte er, es werde auch weiterhin nichts passieren, nur weil in den letzten Jahren nichts passiert war? Nein!
Hagen wußte, daß Kriemhild auf Konfrontation aus war, daß sie die Abrechnung wünschte. Er kannte Kriemhild besser, als ihre Brüder sie kannten. Er mußte damit rechnen, daß sie ihren Racheschlag gründlich vorbereitet hatte. Und er zweifelte nicht daran, daß ihr Haß vor allem ihm galt.
Warum zog er dennoch mit den anderen nach Ungarn? Es fehlte auf dieser Reise nicht an warnenden Vorzeichen. Hagen von Tronje war es, der alle Warnung in den Wind schlug. Warum?
Wünschte auch er die Konfrontation? Wünschte er womöglich den eigenen Untergang?
Das Ende
Kriemhild hat eine kleine Privatarmee um sich geschart, Männer, die ihr ganz ergeben sind.
Als die Burgunden eingetroffen sind, gibt sie Befehl, sie in einen Saal zu treiben. Sie läßt den Saal verriegeln und das Gebäude anzünden. Sie will, daß alle verbrennen.
Einen rettet sie, ihren Bruder Gunther, sie läßt ihn festnehmen. Ihn will sie lebend haben. Alle anderen sollen sterben.
Die Eingeschlossenen wehren sich, sie brechen aus, stürmen unter der Führung von Hagen von Tronje gegen Kriemhilds Männer. Es kommt zu einem Gemetzel. Im Nibelungenlied wird dieses Gemetzel bis in alle Details beschrieben.
Es überlebt nur einer, Hagen von Tronje.
Kriemhild läßt Hagen vorführen, in Ketten.
Sie sagt zu ihm: »Du hast mir alles genommen. Du hast mir meine Brüder genommen, hast sie mir entfremdet, hast sie
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