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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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hinterlassen, sind klein, aber dafür ist die Lunge schnell durchbohrt. Streng verboten, die Dinger.«
    »Dir kann ich es ja sagen«, flüsterte der Junge mir auf einmal ins Ohr. »Was du heute gesehen hast, war nicht so, wie es sich gehört. Man hat der Mensur den Garaus gemacht. Früher gab es gut zwanzig Partien an so einem Tag, warum geht das nicht mehr? Wenn Herr von Bötticher Raeren nicht zur Verfügung gestellt hätte, dann wüßten wir nicht einmal, wo wir diese Duelle austragen sollten. So ein Mist!«
    Wir durften zu Tisch. Von Bötticher am einen Ende, der Otter am anderen. Letzterer bestand darauf, daß ich neben ihm saß, galant schob er meinen Stuhl an und wollte sogar meine Serviette entfalten, aber da war der lange Junge wieder.
    »Und dann zwingen sie uns auch noch, alles mögliche Gesocks aufzunehmen«, flüsterte er. »Kameradschaft nennen sie das. Volksgenossen. Ganz im Vertrauen: mir sagt das nichts.«
    »Gesocks?« fragte der Otter.
    »Der hochgekommene Plebs.«
    »Wenn es fleißige Studenten sind, sehe ich nichts Schlimmes darin.«
    »Sie verstehen das nicht«, sagte der Junge erregt. »Unterschiede müssen sein.«
    »Die Korporationen müssen mit der Zeit gehen.«
    »Doktor Reich«, der Junge schüttelte den Kopf, als müsse er etwas hinunterschlucken, »daß gerade Leute wie Sie für die Partei ergreifen, also wirklich!«
    Der Otter steckte sich nachdrücklich die Serviette in den Kragen, danach studierte er die Messerschneide. Keine Politik beim Essen. Der Junge hatte verstanden. Minutenlang starrten sie zur Tür, bis Leni den Servierwagen hereinschob und tatkräftig mit der Verteilung begann. Zeit für eine Rede gab es nicht. Von Bötticher erhob das Glas auf die Burschenschaft, die noch quicklebendig sei, solange sie gemeinsam an diesem Tisch säßen, da könne man ihm viel erzählen, auf die Mensur! Die Studenten stürzten sich auf das Essen, als wären mit den Düften auch ihre von strikten Regeln und einer Degenlänge Abstand in Schach gehaltenen Emotionen freigesetzt worden. Der lange Junge sah es ebenfalls. »Wie flüchtende Tiere, die noch ein Grasbüschel wegrupfen, bevor der Wolf sie selbst in die Hacken beißt«, sagte er. »Der Plebs steht vor der Tür, also los, fressen!«
    Es entstand eine merkwürdige Atmosphäre. Ein paar Studenten lachten unaufhörlich, mit vollem Mund, während sich andere die Tränen mit ihren Manschetten wegwischten, und niemand fragte, worum es ging. Zwei Dicke hatten eine Meinungsverschiedenheit, ihre Faustschläge donnerten auf den Tisch, jemand stimmte mit falscher Kopfstimme ein Lied an, bekam jedoch eine Hand auf den Mund gedrückt. Von Bötticher sah allem väterlich lächelnd zu. Diese animalische Raserei nach einem Duell hatte er schon oft miterlebt. Er brauchte nur das Glas zu erheben, und es wurde still.
    »Heute habt ihr gezeigt, wie ein Mann seine Ehre und sein Vaterland verteidigt. Heutzutage wird nur noch von Panzern geredet, aber ein richtiger Soldat versteckt sichnicht hinter Stahl. Der kämpft mit offenem Visier. Wie der Kaiser sagte: Das Schwert soll entscheiden. Burschen, laßt uns trinken. Auf den Kaiser. Auf Ehre, Freiheit und Vaterland.«
    Manche führten zustimmend das Glas an die Lippen, andere jedoch, darunter der Unparteiische, begannen erregt zu tuscheln. Von Bötticher sah sie fragend an.
    »Mit Verlaub, auf den Kaiser trinke ich nicht«, sagte der Unparteiische.
    »Das ist Ihre Angelegenheit«, sagte von Bötticher eisig. »Ich lasse mir den Appetit nicht von Leuten ohne historisches Bewußtsein verderben.«
    »Er wohnt doch in Ihrem Land, der Kaiser?« fragte der lange Junge, eine Spur zu laut. Alle Augen waren auf mich gerichtet, auch die von Böttichers. Er machte eine strenge Miene.
    »In ihrem Land, in der Tat, im Land ihres Vaters. Ein Land von Feiglingen.«
    Ein unerwarteter Ausfall. Was tat ich hier noch? Ungebetener Gast, untaugliche Arzthelferin, Kartoffelfechterin. Ich wollte aufstehen, aber der Otter legte mir die Hand auf die Schulter.
    »Nehmen Sie sich das nicht zu Herzen, er meint es nicht persönlich«, flüsterte er. »Sagen Sie mal, Ihr Vater, Arzt aus Maastricht … War er nicht dieser Niederländer, der Egon gepflegt hat, während des Kriegs? Der kam jedenfalls auch aus Maastricht. Darüber kursieren Geschichten, aber von ihm selbst erfährt man ja nie etwas. Ein Buch mit sieben Siegeln.«
    Er sah mich abwartend an. Der neugierige Professor. Wäre er Hausarzt geblieben, so hätte sich diese Neugier

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