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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sich also beim Vornamen genannt, und den hatten sie beide behalten. Jetzt weiterfragen. Doch von Bötticher ignorierte meinen Blick. Er köpfte mit der Schuhspitze einen Pilz, der sich bei genauerem Hinsehen als nicht eßbar erwies. Die Zärtlichkeit, mit der er den abgebrochenen Hut wieder auf den Stiel zu legen versuchte, brachte mich aus dem Konzept.
    »So ist es, mein Vater war dagegen«, murmelte ich. »Aber ich habe ihn davon überzeugt, daß Fechten harmlos ist.«
    »Harmlos? Warum muß alles immer harmlos sein? Auch der Schaden hat eine Funktion. Dieser Pilz hat Schaden genommen, aber jetzt sind wenigstens seine Sporen verstreut. Helene genoß es, anderen während eines Fechtkampfs Schaden zuzufügen. Sie rief immer ›Ja!‹, bevor sie angriff. Sie wußte, es war nicht klug, ihre Absicht anzukündigen, sie sagte, sie könne nicht anders.«
    »Haben Sie sie trainiert?«
    »Nein. Sie war bei diesem Italiener, Gazzera. Ich war damals Consenior für die Universität Frankfurt. Ihr Vater half mir manchmal, alles wieder zusammenzuflicken. Ein guter Paukarzt, ein sanftmütiger, humorvoller Mann. Zum Glück ist er rechtzeitig gestorben.«
    Er machte eine abwehrende Gebärde, als er sah, daß ich ihn nicht verstand.
    »Ich meine, daß er diese Zustände nicht mehr miterleben mußte. Zwei Jahre nach seinem Tod wurde seine Tochter aus dem Fechtclub ausgeschlossen. Stell dir das mal vor, die deutsche Meisterin, ausgeschlossen als Ehrenmitglied.«
    »Warum?«
    »Ludwig war Jude. Helene ist die Tochter eines jüdischen Vaters und einer deutschen Mutter. Ein Mischling. Jetzt weißt du’s. Das IOC verlangte, daß Hitler wenigstens einen Juden für Deutschland starten ließ, und sie mußte dafür herhalten. Im übrigen, auch die beiden anderen Fechterinnen auf dem Podest, die Ungarin, die Gold gewann, und die Bronzemedaillegewinnerin aus Österreich, waren Jüdinnen. Das weiß ich zufällig. Aber Hitler verdammt noch eher den ganzen Fechtsport, als zuzugeben, daß er unrecht hat. Dieser ganze Nationalsozialismus ist ein nutzloses Experiment, das werden sie schon bald einsehen. Es ist Wahnsinn, Gleichförmigkeit und Symmetrie herstellen zu wollen, obwohl es so viele Unterschiede gibt.«
    Er ging in kleinen Kreisen umher, dabei hielt er nach etwas Ausschau, das ihn ansprach. Es war eine Eichel. Er hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger und vergrub sie ein paar Meter von der Muttereiche entfernt im Boden.
    »Verrückterweise hätte das dem alten Mayer gefallen, dieses Gleichheitsstreben. Er glaubte, daß jeder sportliche Erfolge haben kann, sofern er die richtige Trainingsdosis in den Körper gibt. Wie in ein Reagenzglas bei einem Experiment.«
    Er lachte, als fühlte er sich durch die Gesellschaft der Bäume und Tiere gestärkt, als wären sie alle seiner Meinung.
    »Jedes Lebewesen ist doch unvergleichlich, oder? Das Bäumchen, das aus dieser Eichel wächst, wird sich von der Sommereiche dort unterscheiden. Wie das geschieht und warum, kann man nur mit Leidenschaft erklären. Der Leidenschaft, zu wachsen und zu sterben, wenn es nötig ist. Denn nur durch den Tod fühlen wir uns lebendig.«
    Er nickte zufrieden, spürte seinen letzten Worten nach. Ich fragte mich, ob er wirklich glaubte, die Eichel würde keimen. Meinem Vater zufolge entsproß lediglich einer von hundert Eicheln ein Baum. Ich erzählte von Bötticher von der kleinen Eiche in den Händen der Ungarin, dem Andenken, das Helene Mayer sich so gewünscht hatte, das aber nur Goldmedaillengewinner mit nach Hause nehmen durften. Auch wenn dieses Haus auf der anderen Seite des Ozeans lag, wie bei Jesse Owens. Eigentlich konnte man sich kein besseres Souvenir vorstellen. Keine Kuriosität für den Kaminsims, sondern etwas, das mit dem eigenen Boden verwächst, so wie eine liebe Erinnerung nicht verstaubt, sondern sich in einem reifenden Bewußtsein einwurzelt.
    »Eiche bedeutet schlichtweg Baum im Altgermanischen«, sagte von Bötticher. »Wenn man wissen will, woher ein Volk kommt, muß man sich nur ansehen, woher die Namen seiner Bäume stammen. Vertraute Bäume tragen einfache Namen, sie gehören zu unserer Sprache wie die Worte ja und nein. Dann weiß man: Zwischen diesen Bäumen sind wir aufgewachsen. Trotzdem steht hier auch eine blühende Kastanie. Hier, im Herzen Europas, leben wir schon seit Hunderten von Jahren inmitten einer großen Vielfalt an Waldriesen, die ihren Zusammenhang nicht einem identischen Aussehen verdanken wie in Rußland, wo unbeugsame

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