Die niederländische Jungfrau - Roman
glitschglatt, ich mußte balancieren wie ein Seiltänzer. Da bohrte sich ein Ast in meinen Spann. Es war der Seitentrieb eines größeren Astes, der dicht über den Boden lief. Vorsichtig zog ich den Fuß weg, der Zweig brach ab. Wenn ich ihn in die Erde gesteckt hätte, wäre er aus eigener Kraft weitergewachsen. Bäume können das, sie tragen ihre Wiederholung in sich. Jedes Ästchen, sogar das kleinste, ist im Kleinen der Baum, an dem es wächst. So steckt ein Wald voller endloser Wiederholungen seiner selbst. Deshalb hatte ich, Alleingängerin, dort nichts zu suchen. Während ich weiterkletterte, gerann das Blut an meinem Fuß. Erde fiel darauf, er mußte desinfiziert werden. Die Böschungen wurden jetzt niedriger. Da sah ich ihn sitzen. Mit dem Rücken zu mir auf einem umgefallenen Baum. So wie er da saß, aufgerichtet, aber entspannt, den breiten Rücken in einem Leinenhemd, darüber Hosenträger, schien er dort viel weniger fehl am Platz als ich. Er fing sogar etwas Sonne ein. Auch wenn nichts mehr geschähe, auch wenn ich meine Liebe zu ihm nie bekennen würde, ich würde doch zu ihm gehören. So wie ein Ast Teil eines Baumes ist, ein Baum aber nicht Teil eines Astes. Ich wollte etwas sagen, aber er drehte sich um, und ich schwieg.
10
Er deutete auf einen Fußweg, der hinter ihm entlanglief. Ein ordentlich angelegter, begehbarer Weg für Leute, die nicht auf Händen und Füßen herumkraxeln wollen. Ich versuchte, möglichst würdevoll aus meiner Senke zu klettern, aber er hielt es für nötig, mich herauszuziehen.
»Ich sehe, du fühlst dich schon etwas besser«, sagte er. »Ich verstehe nicht, was in dich gefahren ist, anfangs hast du nicht schlecht gefochten …«
»Ich glaube nicht an Ihre Theorie«, unterbrach ich ihn. »Mit dieser Gleichheit. Ich glaube nicht, daß das funktioniert.«
»Und trotzdem hast du verloren. Weißt du, warum?«
Wollte ich gar nicht wissen. Mein Körper glühte noch vor Schmerz und Müdigkeit, das Blut auf meinem Spann war unter einer Schlammschicht geronnen.
»Weil du dich darüber erhoben hast«, sagte von Bötticher. »Du darfst nie aufhören, teilzunehmen. Wenn ein Fechter zum Zuschauer wird, verliert er die Lust, zu gewinnen. Dann ist er verloren.«
»Die Zwillinge sind nicht gleich«, sagte ich starrköpfig. »Der eine hat besser gefochten als der andere. Außerdem werden bei Wettkämpfen die Namen angesagt, man weiß also, wen man vor sich hat.«
Am Himmel griff eine Krähe die andere an. Sie hielten sich flügelschlagend in der Luft. Es gibt wenig, das so verletzlich ist wie ein Vogelleib, doch das schien ihnen selbst nicht bewußt zu sein. Ein Flügel ist im Handumdrehengebrochen, und dann? Warten auf den Tod. Ein verletzter Vogel sucht nichts mehr zu fressen. Nicht aus Selbstmitleid, sondern einfach, weil er nicht mehr funktioniert. Tiere sorgen sich nicht um den Tod. Von Bötticher fühlte sich sichtlich zu Hause im Wald, wo der Tod nicht weggeräumt wird, sondern auf dem Boden liegenbleibt, damit andere davon fressen können.
»Hast du die Zwillinge schon mal gegeneinander fechten sehen?« fragte er. »Das ist faszinierend. Sie gleichen sich aus, weil beide wissen, was der andere als nächstes tun wird. Sollten wir nicht alle Zwillinge sein wollen? Um die Gewißheit zu haben, gemeinsam an diesem Leben teilzunehmen? Daß es zumindest einen Menschen auf dieser Erde gibt, der einen nie verraten wird, aus dem einfachen Grund, weil man sich gleicht?«
So viele Fragen, die mir durch den Kopf geisterten. Manche hatte ich in Gedanken bereits gestellt, ganz einfach, ohne Umschweife; sie bestanden aus nur wenigen Worten. Doch jetzt, wo ich Auge in Auge mit ihm stand – er souverän und passend gekleidet; ich wirr und schmutzig, wie ein Sumpfgeist aufgetaucht –, schienen sie mir lächerlich. Bis auf eine. Ich fragte, ob er Helene Mayer kenne. Er erstarrte am ganzen Körper, in seinen Augen zog sich etwas zusammen, wie an einem Abendhimmel, bevor es zu gewittern beginnt.
»Ja, ich kenne die Blonde Hee. Wieso? Ihren Vater kannte ich sogar bestens. Doktor Ludwig, Arzt in Offenbach. Hat selber auch gefochten. Natürlich nicht besonders. Ärzte sind selten gute Fechter. Sie sehen nicht ein, wozu Treffer gut sein sollen.«
»Aber sie bringen gute Fechter hervor«, traute ich mich zu sagen.
Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Hat Jacq nicht protestiert, als du anfingst zu fechten?«
Der Name meines Vaters, zum erstenmal aus seinem Mund. Sie hatten
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