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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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stapelte. Sie bemerkte mich nicht einmal, als ich an ihr vorbei aus der Küche schlich. Vielleicht machte die Mütze mich unsichtbar. Das Motorengeräusch von Julias Auto verhallte. Egon kam wieder ins Haus zurück. Er lehnte sich kurz an die Eingangstür, als müsse er sein Gleichgewicht erst wiederfinden. Schließlich erwiderte er mein Lächeln.
    »Memento mori«, sagte ich und deutete auf meine Stirn. »Gedenke des Todes.«
    Er nickte und öffnete die Tür zum Flur. Der war breiter als in meiner Erinnerung. Er ging langsam vor mir her, ich blickte auf sein Haar, das grau war im Mondlicht, und dachte daran, wieviel dieser Mann mitgemacht hatte und daß ich jetzt ein Teil davon war. Ob er es wollte oder nicht, auch ich gehörte zu seinen Erfahrungen, auch wenn ich den Krieg, der sein ganzes Leben beherrschte, nicht miterlebt hatte. Unvermittelt blieb er stehen.
    »Nicht eingedenk des Todes, sondern der Toten. Der Totenkopf erinnert uns an diejenigen, die für uns gefallen sind, die wir rächen müssen. Wir sind bereit zu kämpfen, bis der Tod uns erlöst. Wir fürchten ihn nicht, er ist ein angesehener Feldherr. Gerade die Soldaten, die nie an seinen Entscheidungen zweifeln, sind unverletzbar.«
    Der Sex war hart. Er machte sich nicht die Mühe, das Mondlicht auszusperren oder das Bett aufzuschlagen. Er war der Alleintänzer, er brauchte keine Partnerin. Er schob meinen Hintern hoch und hielt ihn fest, bis er sich mit einem Schluchzer auf mich fallen ließ. Ich wagte mich nicht zu rühren.
    »Mädchen.«
    Er sagte es leise und rauh. Ich wartete mit gespitzten Ohren, aber es kam nichts mehr. Er schob seine Finger zwischen meine, und es dauerte nicht lang, da hörte ich ihn schlafen. Ich kroch von ihm weg, zog mich an und öffnete die Schublade. Einen nach dem anderen hielt ich die Briefe meines Vaters am Fenster ins Licht. Mir fiel auf, daß sich seine Schrift im Laufe der Jahre nicht verändert hatte, obwohl er doch noch sehr jung gewesen war, als er die ersten Briefe schrieb. Als wäre er schon immer von der Richtigkeit der mit Nachdruck gesetzten Interpunktionszeichen, der geraden Großbuchstaben überzeugt gewesen. Wie in seinem ersten Brief, vom März 1915:
     
    Mitte Februar hat unser Rotes Kreuz in Vlissingen bei einem Austausch von britischen und deutschen Kriegsgefangenen geholfen. Ich habe vernommen, daß für Juni ein weiterer Austausch geplant ist, aber wahrscheinlich kommen nur Schwerverwundete in Betracht. Ich werde mein Bestes tun!
     
    Ich mußte an das Foto denken, das drei Monate davor aufgenommen worden war. Wenn ich Egon jetzt wecken würde, würde er dann immer noch abstreiten, daß er der verschwommene Leibhusar war? Mein Vater war unerkennbar ernst, auf dem Foto wie auch in den Briefen.
     
    Wirklich, ich verstehe Deine Wut. Aber ich nehme keine Schuld auf mich. Es hat keinen Sinn, einem Arzt Gleichgültigkeit vorzuwerfen, wenn er lediglich den Eid des Hippokrates hält. Im Calvariënberg habe ich Dich nicht »feige betrachtet«, ich habe deinen Körper genau beobachtet, wozu ich verpflichtet bin bei einem Patienten, der nicht sprechen kann. Daß ich Dich danach weiter beobachtet habe, war nur eineMaßnahme, damit Du in Maastricht bleiben konntest. Wer weiß, wohin man Dich sonst geschickt hätte! Du weißt genau, daß nur dauerhaft Kriegsversehrte repatriiert werden.
     
    Zwischen den Umschlägen lag eine Karte ohne Briefmarke, die auf der Vorderseite das Bild einer sinnlichen Dame auf einem Kamel trug. Hier war der Ton schon munterer:
     
    Dem Wachposten zufolge, der mir versprach, Dir diese Karte zukommen zu lassen, hat man Dich aus Bergen weggeholt und irgendwo anders untergebracht. Wo, wußte er nicht oder durfte er nicht sagen … Statt dessen wurde ich durch das Lager geführt, das mir sehr komfortabel erschien. Eine erstklassige Unterkunft, undankbarer Freund. Wirklich, Du solltest mich mal in meiner Amsterdamer Bude besuchen, die viel kleiner ist und außerdem schmutziger!
     
    Egon drehte sich auf die andere Seite. Sein Unterkiefer sackte herunter. Es war eigenartig, ihn so entspannt zu sehen. Zerknittert und unbeschwert. Als könne er jeden Moment aufwachen und einen kleinen Schwatz halten. Auf der Hut, nahm ich mir den letzten der Briefe vor, die ich in der Hand hielt. Mein Vater hatte das Papier sehr eng beschrieben, ich konnte nicht alles entziffern:
     
    10. August 1916
    Lieber Egon,
    ich habe etwas Abscheuliches erlebt. Ich bin mir jetzt gar keiner Sache mehr sicher und weiß,

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