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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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daß ich zu gutgläubig war. Ich habe daran gedacht, dem Arztberuf Lebewohl zu sagen. Was ich gesehen habe, war grauenvoll, aber faszinierend. Zuviel Sicherheit streut einem Sand in die Augen,Überzeugungen versanden. Aber mir ist keine einzige mehr geblieben.
    Das Rote Kreuz bat mich erneut, bei einem Austausch deutscher und englischer Verwundeter zu assistieren … wir wurden in Maastricht mit der Pflege betraut … so daß die armen Seelen schließlich in Hoek van Holland, in der Lagerhalle der Holland-Amerika-Linie, untergebracht werden sollten. Aus Aachen kam ein deutscher Lazarettzug mit Dutzenden schwerverwundeter und geistesgestörter Engländer. Sie waren grauenvoll verstümmelt. In ein Bett hatte man zwei Rümpfe gelegt, so paßte es gut, zwei halbe Körper, die einander gegenüberlagen. Es gab einen Offizier, der von all seinen Gliedmaßen nur noch einen Arm übrig hatte, aber trotzdem trug er einen Handschuh, weil er das für würdiger hielt … er hat mich an Dich erinnert, Egon. Du solltest Dich glücklich schätzen, daß Du die Schützengräben nicht miterleben mußtest.
    Ich denke, daß wir mit diesem Krieg das Buch unserer Zivilisation für immer zugeschlagen haben. Die Geisteskranken waren widerwärtig, ein ganzer Waggon voll, die tobten wie Teufel, kein Lebewesen schreit so. Es muß ein Defekt in der Hirnrinde sein, wodurch ihr System vom Kurs abkommt und auf gut Glück Emotionen ausstößt wie ein überhitztes Artilleriegeschütz. Ich denke an die Brodmann-Karte, bin mir aber noch nicht sicher, welches Areal dafür zuständig ist.
    Was mich aber am stärksten ins Wanken brachte, war der Zynismus. Bis dahin war ich an Patienten gewöhnt, die Respekt vor ihrem Körper hatten, die ihrer Krankheit mit Angsttränen begegneten, aber gleichzeitig auf ihre Genesung vertrauten. Da gab es einen britischen Sanitätssoldaten, größtenteils verbunden, mit schweren Brandwunden. Er erzählte mir von seinem Kameraden, der von einer Mine getroffen worden war. Der habe die ganze Zeit nur geschrien: »Ich habmein Bein verloren, ich hab mein Bein verloren!« Das hing den anderen bald zum Halse heraus. »Hör endlich auf«, habe einer gerufen und dabei auf den abgerissenen Körperteil, der noch im Stiefel steckte, gedeutet, »du hast es nicht verloren, da liegt es doch!« Alle mußten lachen, erzählte der Sanitäter, alle, selbst der Verletzte.
    Das ist die Zeit, in der wir leben, in der ein Mensch die gesamte Schöpfung, sogar seinen eigenen Körper, geringschätzt, weil dieser überhaupt keine Bedeutung mehr hat. Nicht mehr lang, und dieser altmodische Mechanismus aus durch Gelenke verbundenen Knochen, pumpendem Blut und schlagendem Herzen wird von der modernen Technik überholt sein. Wozu noch Arzt werden? Antworte mir endlich, Egon.
     
    Einen Moment lang dachte ich, er sähe mich an, aber es war der Mond, der seine Lider aufleuchten ließ. Sein Gesicht wirkte dadurch wie aus Holz. Ich stopfte die Briefe meines Vaters in die Schublade zurück und nahm den obersten Brief aus dem Poste-Restante-Umschlag. Bevor ich das Zimmer verließ, sah ich noch einmal zu ihm hin. Es lag an den Furchen neben seinem schlaffen Mund, daß er aussah wie eine Bauchrednerpuppe. Eigentlich sehr unattraktiv.
    Als ich in der Eingangsdiele stand, ging mir auf, daß ich vergessen hatte, den Lappen zurückzulegen. Der Brief, den ich unter Dampf geöffnet und völlig zerlesen hatte, obwohl sich jedesmal alles in meinem Magen zusammenkrampfte, wenn ich ihren Namen sah, was sollte ich jetzt damit tun? Letztlich war es ganz einfach. Die Küche war verlassen, aber jemand hatte einen neuen Holzklotz ins Feuer gelegt. Ich warf erst den Umschlag in die Flammen, dann den Brief. Das Papier sank in sich zusammen. Ich will nicht abstreiten, daß ich es genoß, wie die Sätze verbrannten. Manche Worte verflüchtigten sich mit einem verzweifelten Flüstern, andere hielten stand, bis sie schwarz waren. Ich glaube, daß ich ihren Namen verglühen sah wie einen Nachtfalter über einer Kerze.
     

Januar 1917
     
    Lieber Jacq,
     
    ich bin für immer verloren. Wann bin ich hierhergekommen? Ich weiß es schon nicht mehr. Bevor der Winter zuschlug, das ist sicher. Die Gewässer waren noch nicht zugefroren. Die hohen Bäume entlang den Ufern rauschten. Ich wurde über die Zugbrücke hineingeführt, zwischen vier Bütteln, wie ein Ganove. Ihre ernsten Augen unter den Helmen sahen nicht mal, daß ich dem Bärtigen vorneweg den Säbel aus der Scheide zog.

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