Die Nonne und die Hure
legen. Die Gaffer in den hinteren Reihen verdrehten die Köpfe, um alles genau sehen zu können. Mütter und Väter setzten ihre Sprösslinge auf die Schultern, damit ihnen nichts von dem Schauspiel entging. Es herrschte eine atemlose Stille. Der Henker und der Delinquent waren nun auf der jeweils obersten Sprosse der Leitern.
»Du hast jetzt die Gelegenheit, ein letztes Wort zu sprechen«, sagte der Henker laut. Der Mann öffnete die Lippen und rollte mit den Augen. Doch es kam kein Ton heraus. Dann schrie er: »Ich bin unschuldig! Ein anderer hat die Taten begangen, die man mir zur Last legt! Als die ersten Frauen getötet wurden, war ich gar nicht in der Stadt! Es gibt Menschen, die das bezeugen können.«
»Die Zeugen wurden alle gehört«, beschied der Henker.
Er stieß den Verurteilten von der Sprosse. Mit einem Ruck wurde der Fall des schweren Körpers gestoppt. Der Mann zappelte und drehte sich im Kreise. Celina wurde übel, doch etwas zwang sie, weiter hinzuschauen. Als das Zucken aufhörte, waren die Augen des Delinquenten aus ihren Höhlen getreten, und die Zunge hing bläulich aus dem Mund. Die Menge jubelte und bewarf den toten Körper mit Steinen.
Die drei wandten sich zum Gehen. Dicht gedrängt standendie Menschen, ihre Fratzen erschienen Celina teuflisch. Lüsterne, feuchte Augen, Zungen, die sich über die Lippen leckten. Sie drängelte sich durch die Menge, die beiden Männer folgten ihr. Celina eilte über die Ponte della Paglia voraus.
Da es noch hell war, beschlossen Celina und Christoph, in die Lagune hinauszufahren. Sie riefen einen Gondoliere herbei. Vor ihnen lag die Lagune; sie schimmerte tiefblau. Der Campanile erhob seinen steinernen Körper in den Himmel, der Markusplatz, Dogenpalast, Löwe und Hafen waren zum Greifen nah. Ein kalter Wind kam auf. Fischer fuhren mit ihren Booten hinaus. Rechts von ihnen erhoben sich die Inseln Giudecca und San Giorgio Maggiore mit ihren Kirchen. Die Silhouette der Stadt war in ein zartes orangegoldenes Licht getaucht. Christoph hatte seinen Platz verlassen und sich Celina gegenübergesetzt. Er schaute in die untergehende Sonne. Ein Wasservogel schnatterte in der Nähe.
»Glaubst du wirklich, dass der Mann der Mörder war?«, fragte Christoph.
»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete Celina. »Möglicherweise hat er die letzten beiden Mädchen wirklich getötet. Es könnte eine Nachahmungstat gewesen sein. Irgendetwas sickert immer durch.«
»Ja, die Stadt hat tausend Ohren«, sagte er nachdenklich. »Der Rat der Zehn kann versucht haben, es dem Mann in die Schuhe zu schieben, damit die Nachforschungen aufhören. Aber ich traue diesem einfachen Menschen nicht zu, die Nonnen zu töten, ihnen einen Löwen einzubrennen und ruhig seinem Tagewerk nachzugehen. Da steckt mehr dahinter, ein größerer Plan.«
»Ich habe dir ja erzählt, dass es im letzten Sommer keinen Sturm in der Adria gegeben hat«, sagte Celina. »Mein Onkel hat gelogen, und Faustina steckt mit ihm unter einer Decke. In dem Brief, den er damals in Bassano delGrappa erhielt, muss etwas ganz anderes gestanden haben als die Nachricht vom Tod meiner Eltern.«
Christoph blickte auf das dunkler werdende Wasser der Lagune hinaus.
»Es gibt Verbindungen zwischen deinen Verwandten und dem Zehnerrat.«
»Und es gibt Verbindungen zwischen diesem Abt von Convertite und dem Dogen, der gestern seine Zeremonie abgehalten hat«, fügte Celina hinzu. »Ich weiß bloß noch nicht, welche.«
»Fällt dir etwas ein, was wir tun könnten, um endlich Licht in dieses Dunkel zu bringen?«, fragte Christoph.
»Merkst du was?«, fragte Celina.
»Wir sind schon wieder mitten in den Nachforschungen. Es vergeht ja auch kaum ein Tag, ohne dass man mit der Nase drauf gestoßen wird«, sagte er und zwinkerte.
Celina überlegte eine Zeitlang.
»Der Palazzo«, sagte sie.
»Welcher Palazzo?«
»Der Palazzo Gargana. Hans erwähnte gestern beiläufig, dass er gehört habe, Eugenio und Faustina befänden sich auf dem Landgut in Bassano del Grappa. Wir könnten in dem Palast nachschauen, ob es irgendeinen Hinweis gibt, der uns weiterführt.«
»Wir müssen aber wissen, wonach wir suchen sollen.«
»Nach Briefen. Der Diener in Bassano sagte mir, mein Onkel und meine Tante seien in den Palazzo gezogen. Dort müssen sie zumindest über den Winter gewohnt haben. Vielleicht ist dort der Brief versteckt.«
»Wir können es ja probieren«, meinte Christoph. »Auch wenn die Aussicht, etwas zu finden, denkbar gering
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