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Die Nordischen Sagen

Die Nordischen Sagen

Titel: Die Nordischen Sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Neuschaefer
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was du verlangst, ich kann dir alles geben.«
    »Was soll ich mit Macht oder Land, wo ich alles habe und nichts begehre? Nein«, sagte der Riese und lächelte verschlagen, »was du mir gibst, muss dir wertvoll sein und teuer.«
    Odin spürte, dass der Riese etwas im Schilde führte und tastete nach seinem Speer, bevor er antwortete. »Also, Mimir, Wächter der Quelle, mach’s kurz. Was willst du?«
    »Gib mir dein linkes Auge, dann darfst du trinken.«
    Odin schluckte. »Mein linkes Auge? Ich brauche beide Augen in der Schlacht und beide, um auf die Welten hinabzublicken. Ich kann dir mein Auge nicht geben.«
    »Dann verlasse diesen Ort und kehre niemals wieder«, sagte der Riese. »Ich lese deine Gedanken und weiß wohl, dass du mich nun töten willst. Aber, Odin, wenn du das tust, wirst du niemals erfahren, was am Ende der Zeiten auf die Götter zukommt. Also wähle klug.«
    Da willigte der Göttervater in den Handel ein. Mimir winkte nur einmal mit seiner riesigen Hand, und schon zog sich eine dunkle Narbe über Odins linke Augenhöhle.
    »Nun trink«, sagte der Riese und gab die Quelle frei.
    Odin beugte sich nieder und trank mit gierigen Schlucken.Als er seinen Durst gestillt hatte, spürte er das ewige Wissen wie eine warme Kraft in sich. Odin bemerkte, dass er auch mit einem Auge recht gut sah, und beglückwünschte sich im Stillen zu dem Tausch.
    »Verstehst du jetzt?«, sagte Mimir, »du hast ein äußerliches Auge für ein inneres gegeben? Aber hüte dich, Odin, selbst nach dem Trunk aus der Quelle dauert es lange, bis dein inneres Auge wirklich sehen kann. Allwissenheit setzt Weisheit voraus, und die musst du dir selbst erwerben. Nun folge mir auf diesen Berg«, sagte Mimir und wies nach Norden, »dort will ich dir die neun Geheimnisse der uralten Zeichen offenbaren. Diese Zeichen sind mächtig. Ich nenne sie Runen. Jedes Lebewesen und jedes Ding in der sichtbaren und der unsichtbaren Welt hat seine Entsprechung in diesen Zeichen.«
    Odin zögerte. »Ich benutze auch magische Zeichen. Schon lange.«
    »Du weißt nichts«, fuhr Mimir Odin an, dass es von den Bergen widerhallte. »Viele malen magische Zeichen. Aber nur der beherrscht den Zauber der Runen, der nicht nur versteht, sie zu schneiden, sondern auch, sie zu deuten. Erst dann bist du allwissend. Noch brauchst du also meine Hilfe, um zu erfahren, was dich erwartet, wenn den Göttern das Ende dämmert, wenn Ragnarök, das Schicksal, über euch hereinbricht.

    Odin blieb die ganze Nacht auf dem Berg in Jötunheim, dem Land der Riesen, und lauschte Mimirs Lehren. Als er am Morgen wieder hinabstieg und zurück nach Walhallflog, war er ein anderer geworden und blickte von nun an nachdenklich und besorgt in die Zukunft. Über Mimirs Quelle aber lag seit jener Nacht der besondere Schutz der Götter.
    Als Odin wieder nach Asgard zurückgekehrt war, schloss er sich lange in seiner Burg ein, um nachzudenken. Was genau in ihm vorging, sagte er niemandem, nicht einmal Frigg. Er ernannte aber unter den Göttern einen Wächter, der tagein, tagaus an der Regenbogenbrücke Bifröst ausharren sollte. Heimdall, der weise Gott des Morgenlichts, wurde ausersehen, Asgard künftig vor allen Gefahren zu warnen, die möglicherweise aus den unteren Welten drohen konnten. So baute Heimdall seine Burg an das Ende des Himmels und wachte über das Reich der Götter. Er brauchte weniger Schlaf als ein Vogel, sah bei Tag wie bei Nacht hundert Meilen weit, und seine Ohren waren so scharf, dass er das Gras auf der Wiese und die Wolle auf dem Rücken der Schafe wachsen hörte. Sollte Asgard Gefahr drohen, so würde er in ein goldenes Horn stoßen, um alle Götter zu den Waffen zu rufen. Seit Heimdall seine Wache an der Regenbogenbrücke angetreten hatte, schlief Odin wieder so tief und ruhig, wie es nur Götter können.
    Der Nebelmond stand über dem Wald. Bleich und kalt wie ein Totenschädel. Sein fahles Licht ließ die Dunstschwaden zwischen den Stämmen wie weiße Tücher aussehen, und es herrschte vollkommene Stille. Kein atmendes Wesen würde diesen Ort betreten, besonders nicht jetzt, nicht in der Zeit der Schatten. Und dennoch bewegtesich eine Gestalt zwischen den Bäumen. Lautlos glitt sie durch das Dickicht und verschwand dann in Angrobodas Höhle. Und niemand war da, um sie aufzuhalten.
    Obwohl Odin vom Quell des Wissens getrunken hatte, war es ihm bislang nicht gelungen, die Macht der Runen für sich zu nutzen. Zwar wusste er alles über die geheimnisvollen Zeichen, die

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