Die Nordischen Sagen
so gewaltige Zauberkräfte besaßen, dass sie sogar die Elemente beherrschen, Tod bringen und Krankheiten heilen, Liebe ebenso entfachen konnten wie Hass, aber es gelang ihm nicht, sie einzusetzen. Nachdem er mehrere Nächte lang vergeblich geübt hatte, verlor Odin eines Morgen die Geduld.
»Frigg! Frigg! Zu mir!«
Es dauerte eine Weile, bis Odins Gemahlin schließlich eintrat.
»Wo bist du denn so lange gewesen?«, herrschte Odin sie an. »Da, setz dich. Du wirst mir jetzt helfen.«
Frigg hob eine Augenbraue, warf den Kopf zurück und wollte ohne ein weiteres Wort wieder hinausgehen.
Doch Odin war mit einigen schnellen Schritten bei ihr und ergriff sanft ihren Arm.
»Vergib mir. Ich war nur ... es sind die Runen. Du weißt, ich bin ...äh ... allwissend. Und genau das ist das Problem. Ich beherrsche den Runenzauber nicht.«
Frigg schwieg. Reglos stand die hochgewachsene Göttin vor ihm und sah auf seine Hand hinab, die immer noch ihren Arm umklammert hielt.
Augenblicklich löste Odin den Griff.
»Es tut mir leid!«
»Wenn du den Runenzauber nicht beherrschst, dann musst du jemanden fragen, der es kann.«
Ihre Stimme war eisig, aber Odin war erleichtert, dass sie überhaupt mit ihm sprach.
»Ich frage dich ja.«
»Odin, ich beherrsche lediglich die Seidrkunst. Ganz so einfach kannst du es dir auch nicht machen. Geh zu den Nornen und frage sie um Rat. Und jetzt tritt beiseite, ich möchte gehen.«
Schnell, bevor Frigg den Saal verlassen konnte, stellte sich Odin ihr erneut in den Weg.
»Es ist nur ... Wie sieht das denn aus, wenn ich zu den Nornen gehe und sie um Hilfe bitte. Jetzt, wo alle Welten von meiner Allwissenheit sprechen? Könntest nicht du vielleicht?«
»Die Nornen findest du an der Urdquelle bei uns in Asgard.«
Der heilige Platz lag verlassen unter den Zweigen Yggdrasils. Nichts war zu hören außer dem Nachtwind, der durch die Blätter der Weltesche fuhr, und dem leisen Plätschern des Quellwassers.
»Urd«, flüsterte Odin in die Stille hinein, »Quellenwächterin, zeig dich dem Götterfürst!«
Kaum hatte Odin den Namen der ersten Schicksalsfrau ausgesprochen, stieg aus der Quelle dichter Nebel auf, nahm Gestalt an, und einen Augenblick später erschien die Norne Urd vor Odin. Weiß und durchscheinend schwebte sie über der Quelle. In den Händen trugsie eine Spindel, mit der sie fortwährend einen zarten glänzenden Faden spann.
»Ich bin Urd, das Vergangene. Was willst du, Odin?«, fragte sie, und ihre Stimme klang so zart und hell wie das Plätschern von Wasser.
»Ruf deine Schwestern Skuld und Werdandi. Ich bin hier, um euch einen Besuch abzustatten.«
»Du brauchst Hilfe, Göttervater. Es ist sinnlos, uns etwas vormachen zu wollen, denn wir wissen alles. Wir spinnen das Schicksal aller Wesen. Auch das der Götter.«
Und während die Norne sprach, lösten sich aus ihrer nebligen Gestalt zwei weitere weiße Frauen, die nun ebenfalls direkt über der Quelle schwebten.
»Ich bin Skuld, das Kommende, und ich bin Werdandi, das Bestehende, wir sind drei und wir sind eins, was willst du von uns.«
Verwirrt blickte Odin von einer Norne zur nächsten. Er hörte Urd sprechen, aber alle drei Schicksalsfrauen bewegten den Mund. Sie sprachen mit einer Stimme. Und wie ihre Schwester spannen auch Skuld und Werdandi unentwegt an einem glänzenden Faden.
»Ja, also, ist das mein Lebensfaden, den ihr da spinnt? Es beunruhigt mich etwas, immerhin bin ich der Göttervater«, sagte Odin und blickte auf die sich drehenden Spindeln.
»Wir weben allen Lebenden ein Schicksalsgespinst, und ob sein Leben glücklich oder elend wird, das liegt in unseren Händen. Aber auch wir tun, was vorherbestimmt ist. Dein Leben haben wir schon längst in den Himmelgespannt, von Osten nach Westen und von Norden nach Süden.
»So. Schon in den Himmel gespannt. Und das ist dann jetzt endgültig?« Unwillkürlich blickte Odin hinauf zu den Sternen, aber er sah nur das dichte grüne Blätterdach der Weltesche. Die Nornen schienen seine Frage gar nicht gehört zu haben.
»Du wirst leben, du wirst herrschen, und du wirst untergehen mit allen anderen Göttern. Wenn Ragnarök, das Schicksal, das Ende der Zeit, über euch hereinbricht, wird sich die Unterwelt auftun und ihre Armeen ausspeien. Auch die Riesen werden gegen dich sein. Sie gieren nach Rache, und einer der ihren wird es sein, der das Böse in die Welt entlässt, um die Götter zu stürzen.«
»Ja, ja«, Odin winkte ärgerlich ab, »so was hat Mimir auch
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