Die Nordischen Sagen
Nacht, und erst als der Hengst Skinfaxi vom Osten her den Tag und die Sonne heraufzog, kehrten Hugin und Munin heim.
»Es ist etwas passiert, Federvieh. Ich spüre es ganz deutlich, aber ich weiß im Augenblick nicht genau was«, herrschte Odin die beiden Raben an. »Etwas stimmt nicht mit der Esche. Dieses Stöhnen, das ich andauernd höre, das kommt aus ihren Zweigen. Ich bin mir jetzt ganz sicher. Erst bei der letzten Götterversammlung war es wieder da.«
Die Raben legten ihre schwarzen Köpfe zur Seite und pickten auf den Boden.
»Nein, es gibt jetzt kein Futter.« Odin lief rot an vor Wut.
»Wenn du uns nicht fütterst, sagen wir auch nichts.« Munin sträubte das Gefieder und steckte dann seinen Kopf unter den Flügel.
»Hey, Rabenbraten. Du wirst doch jetzt nicht schlafen?« Odin warf seinen Kriegshelm nach dem Raben.
»Futter gegen Nachricht.« Der zweite Rabe Hugin klapperte ungeduldig mit dem Schnabel und stierte Odin aus kohlschwarzen Rabenaugen trotzig an.
Odin sah, dass mit seinen gefiederten Kundschaftern heute nicht zu verhandeln war, und warf ihnen ein paar Brocken Fleisch hin.
»Also, was ist mit Yggdrasil?«
Die Raben schlangen das Fleisch hastig hinunter, dann spreizte Munin seine Flügel und antwortete: »Das Klagen der Weltesche haben auch wir vernommen, und ganz Midgard spricht davon, aber niemand konnte uns Auskunft geben.«
»Noch haben wir die Ursache für Yggdrasils Leid in Midgard ausmachen können«, fuhr Hugin fort. »Der Grund muss in Niflheim zu finden sein, Herr. Nach etwas Schlaf wollen wir heute Abend hinab ins Reich der Nebel fliegen.«
»Heute Abend erst?« Odin schlug zornig nach den Raben, aber Hugin wich ihm geschickt aus. »Heute Abend kann es schon zu spät sein. Wer weiß, ob nicht die Reifriesen inzwischen einen Weg gefunden haben, uns Himmlische zu vernichten? Nein, ich steige selbst nach Niflheim hinab und finde heraus, an was die Weltesche krankt.«
Und Odin griff nach seinen Waffen, legte sich den blauen Wandermantel um und eilte mit riesigen Schritten aus seiner Burg hinaus. Als er am Rand Asgards angekommen war, stieg er die Regenbogenbrücke Bifrösthinab, durchquerte Midgard und erreichte schließlich den Zugang zur untersten der drei Welten, das Tor ins Reich der Finsternis, das Tor von Niflheim. Einen Moment zögerte Odin, doch dann schloss sich seine Hand fester um Gungnir und er setzte seinen Weg fort.
Kaum hatte Odin die dunkle Welt betreten, hüllte ihn der Nebel ein wie ein kalter Mantel. Nichts hatte sich verändert, seit er Niflheim verlassen hatte. Das Eis beherrschte alles, und von den schwarzen Flüssen wehte ein fauliger Gestank herüber. Odin stapfte durch den Schnee und die Einsamkeit dieses schrecklichen Ortes. Er beschloss, die älteste Wurzel Yggdrasils zu suchen, den Platz, an dem die Esche aus dem Eis hervorgebrochen war. Wäre er kein Gott gewesen, er wäre auf der Stelle erfroren. So aber kniff er sein Auge zusammen und wanderte halb blind weiter. Der Sturm zerrte an Haaren und Gewändern und toste in seinen Ohren, bis sie fast taub waren.
Dann ließ der Wind plötzlich nach, und Odin erblickte auf dem Boden seltsame Spuren. Etwas Riesiges, Schweres musste hier entlanggekrochen sein und hatte dabei tiefe Abdrücke im Schnee hinterlassen. Odin folgte den Spuren.
Was für eine Kreatur war das bloß, die hier lebte, in dieser bitterkalten Finsternis?
Die Spuren führten ihn bald an den Fuß eines Gebirges. Wie alles Gestein in der untersten Welt war es schwarz und von scharfkantigem Eis überzogen. Odin folgte einem kleinen Pfad über Geröll und Felsen, bis er aneiner senkrecht emporragenden Bergwand endete. Odin sah sich verwundert um. Wohin war das Wesen verschwunden? Konnte es klettern? Oder etwa fliegen? Seine Gestalt wechseln? Odin verdrängte diesen Gedanken, duckte sich und verwandelte sich im nächsten Augenblick in einen majestätischen Adler. Dann erhob er sich mühelos in die Luft und ließ sich vom Wind hoch hinauf über das Gebirge tragen.
Von oben erspähte er einen kleinen Vorsprung über einer Felswand und direkt dahinter ein schwarzes Loch, das den Berg nach Norden öffnete: den Eingang zu einer Höhle.
Er landete auf dem Felsplateau und nahm seine göttliche Gestalt wieder an, dann trat er vorsichtig ins Dunkel. Weder Mensch noch Tier hätten sich in dieser undurchdringlichen Nacht zurechtgefunden, Odin aber sah so gut wie am lichten Tag. Er schlich tiefer in die Höhle hinein, die wie ein Tunnel in den Berg
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