Die Nordischen Sagen
führte. Nach einer Weile spürte er, dass sich der Boden senkte. Es ging bergab, und vom Grund des Berges drang ein stechender Geruch herauf: faulig, scharf, dann aber auch wieder süßlich. Odin musste sich ein Tuch vor Mund und Nase halten.
»Entsetzlicher Gestank. Vermutlich ist einer der schwarzen Flüsse in der Nähe.«
Einen Moment blieb er stehen, um zu lauschen. Und tatsächlich: Weit unter sich hörte Odin das leise Rauschen und Glucksen von Wasser, sonst aber war alles still. Lautlos wie eine Raubkatze folgte Odin dem Tunnel, und bald glaubte er auch zu wissen, wohin er ihn führen würde: zu einer Quelle im Fels, so tief unten, dass niemand sie je erblickt hatte. Zum Ursprung der Quelle Hvergelmir.Da plötzlich: ein Scharren, nicht weit entfernt von Odin, ein Kratzen, als würden Messer auf Stein geschliffen. Odin sammelte seine Kräfte und bereitete sich innerlich auf einen Kampf vor, denn was auch immer ihn am Ende des Tunnels erwartete, es würde in jedem Fall ein Geschöpf der Nacht sein, eine Ausgeburt der Unterwelt. Der Gestank, der die Luft verpestete, war inzwischen so stark geworden, dass Odin beschloss, in den nächsten Stunden einfach nicht mehr zu atmen, denn Götter können das. Odin tastete sich vorsichtig voran, Schritt für Schritt. Und dann, nach einer Biegung, endete der Gang, und vor Odin lag eine unterirdische Felsengrotte, so groß und geräumig wie sein Palast im Himmel. Die Decke wurde von riesenhaften Tropfsteinen wie von Säulen gestützt, und auf dem Boden schimmerten schwarze Pfützen. Ein seltsames bläuliches Licht herrschte in der Grotte, aber Odin konnte nicht erkennen, woher es kam. Im Halbdunkel glaubte er Tausende Schlangenleiber zu sehen, die an den Wänden entlangglitten. Es war feucht in der Höhle, und immer neue giftige Tropfen lösten sich von der Decke und fielen auf den Boden. Die Quelle Hvergelmir musste ganz in der Nähe sein, denn ihr Rauschen war nun deutlich zu hören. Das Beeindruckendste aber war die Mitte der Grotte. Eine gigantische Wurzel, so dick wie hundert Baumstämme zusammen, krallte sich in den kalten Boden. Die Wurzel der Weltesche Yggdrasil. Um die Wurzel herum war eine Art Wall aufgeschichtet. Als Odin näher herantrat, sah er, dass der Wall aus Steinen und Knochen bestand und in Wahrheit ein Nest war. Einen Herzschlag später wusste er auch, was hierbrütete: der abscheulichste Drache, der je einem Gott begegnet ist.
Der Drache kauerte in seinem Nest und hatte die Augen geschlossen. Er war riesig. Mit ausgebreiteten Flügeln konnte er fast die ganze Grotte durchmessen. Sein Leib war schwarz, schlangenhaft und mit einem Panzer aus eisenartigen Schuppen bedeckt. An seinen vier mannsgroßen Klauen saßen scharfe Krallen, und der lange Drachenschwanz peitschte nervös durch die Luft, als er Odin witterte.
Plötzlich öffnete er die Augen und richtete sich auf. Odin blieb keine Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Der Drache hatte ihn gesehen. Langsam senkte er seinen gewaltigen Kopf zu ihm herab und blickte ihn aus rot glühenden Augen lauernd an. Dann öffnete er das Maul, und sein Atem bildete kleine Dampfwolken in der kalten Luft.
»Bist du Odin, der Göttervater?« Die Stimme des Drachen war überraschend tief und angenehm und vielleicht sogar ein bisschen traurig.
»Der bin ich. Und wie ist dein Name, Kreatur?« Odin war ein Stück zurückgewichen, und er war froh, dass er nicht atmen musste, als der Drache wieder die Schnauze öffnete, um zu antworten.
»Nidhöggr, der Neiddrache. Ich habe schon auf dich gewartet.«
»Woher hast du denn gewusst, dass ich komme? Eben hast du noch geschlafen. Bist du etwa hellsichtig?«
»Ich habe auf dich gewartet. Das Eichhörnchen hatdich angekündigt ... Ratatöskr, Nagezahn, ist sein Name. Es läuft stets den Stamm der Weltesche hinauf und hinab und berichtet mir aus den oberen Welten.«
»Und dann hast du mich in deine Höhle gelockt, um mich hier anzugreifen«, fiel ihm Odin ins Wort und packte seinen Speer noch fester. »Überleg es dir gut, niemand widersteht Odin.«
»Ich bin Aasfresser. Ich ernähre mich nur von Toten«, antwortete der Drache und deutete mit dem Kopf auf einen Berg abgenagter Skelette. Für einen kurzen Moment meinte Odin, ein heimtückisches Lächeln um das Maul des Drachen gesehen zu haben. Dann fiel sein Blick auf die Wurzel der Weltesche.
»Was hast du mit der Wurzel gemacht? Gehört die etwa auch zu deinem Speiseplan? Kein Wunder, dass Yggdrasil leidet.«
»So?
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