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Die Nordischen Sagen

Die Nordischen Sagen

Titel: Die Nordischen Sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Neuschaefer
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Leidet Yggdrasil?« Nidhöggr glitt fast unmerklich ein kleines Stück näher auf Odin zu. »Das tut mir sehr leid ... armer Baum.« Der Drache lächelte spöttisch, diesmal versteckte er es nicht mehr.
    »Du wirst sofort aufhören, an ihm zu nagen, du Ausgeburt der Finsternis«, herrschte Odin Nidhöggr an. »Wenn Yggdrasil verdorrt, gerät alles aus den Fugen. Himmel und Erde werden zusammenstürzen, alle Welten werden vergehen und mit ihnen die Götter.«
    Odin wollte schon auf den Drachen losstürmen, aber der rollte sich vor ihm zusammen wie eine kleine Katze und schnurrte: »Genauso ist es, Göttervater, und vielleicht macht es deshalb auch so viel Spaß, daran zu nagen.«
    Nidhöggr hob eine gigantische Klaue und begann, siesorgfältig abzulecken. Den zornigen Göttervater schien er völlig vergessen zu haben.
    »Ich könnte dich töten, sofort, jetzt und hier.«
    »Nein, Odin, das kannst du nicht. Es ist mir nicht bestimmt zu sterben. Und schon gar nicht durch deine Hand.«
    »Aber das Weltende wird auch dich verschlingen, Drache. Wenn du es heraufbeschwörst, gehst du mit unter.« Noch während er sprach, warf Odin Blitze gegen die Felswände. Funken stoben durch die Luft, und die Höhle wurde sekundenlang von grellem Licht erhellt.
    Langsam wandte der Drache Odin den Kopf zu, und seine Stimme war weich wie Samt.
    »Du täuschst dich, Odin ... Alles wird sterben, aber Nidhöggr fliegt. So sagt es die Prophezeiung:
    Der düstre Drache
    tief drunten fliegt,
    die schillernde Schlange
    aus Schluchtendunkel.
    Er fliegt übers Feld;
    Im Fittich trägt
    Nidhöggr die Toten:
    Nun versinkt er.
    Klingt für mich nach sicherer Landung.« Der Drache lachte, und es klang so voll und tief wie Glockengeläut.
    »Es kann genauso bedeuten, dass du mit uns untergehst«, sagte Odin
    Nidhöggr antwortete nicht. Er spannte seine riesigen Schwingen aus, erhob sich lautlos vom Boden und flogdurch eine angrenzende Höhle davon. Odin aber blieb in der Felsengrotte zurück, benommen vor Wut und Scham. Noch nie zuvor hatte er sich einem anderen Wesen so unterlegen gefühlt.
    Als er sich gefasst hatte, ging er auf die verletzte Wurzel zu und untersuchte sie. Aus den Kerben, die Nidhöggr in Yggdrasils Holz gebissen hatte, floss unablässig goldenes Harz, wie Blut aus einer Wunde, und Odin zeichnete heilende Runen auf die Oberfläche. Langsam begann sich die Wunde zu schließen, Millimeter für Millimeter. Da bemerkte Odin ein Eichhörnchen, das sich an die Wurzel krallte und ihn neugierig beobachtete.
    »Er wird sie wieder annagen«, sagte das Eichhörnchen und huschte ein Stück an der Wurzel hinauf. »Was du tust, ist vergeblich.«
    Odin klatschte laut in die Hände, um das kleine Tier zu verscheuchen. »Mach, dass du wegkommst, Ratatöskr. Stör mich nicht länger.«
    Das Eichhörnchen verschwand durch eine Öffnung in der Decke. Von Weitem aber hörte Odin noch, was es ihm zurief: »Du solltest lieber freundlicher sein, Göttervater, denn ich könnte allen Geschöpfen in allen Welten davon berichten, wie du dich hier unten blamiert hast. Daran solltest du immer denken, wenn du zukünftig ein Eichhörnchen siehst.«
    Dann war es still in der Grotte, und Odin beschloss, nach Hause zurückzukehren. Er verließ Niflheim, wanderte durch Midgard, und als die Götter ihn schließlich über die Brücke Bifröst heraufkommen sahen, wunderten sie sich, wie schwer und müde seine Schritte waren.Odin sprach mit niemandem über seine Erlebnisse in der untersten Welt. Aber sobald die Nacht hereingebrochen war, verließ er seine Burg und schlich durch die Dunkelheit, dorthin, wo die Urd-Quelle unter den Zweigen Yggdrasils entspringt.
    Als Odin die Urd-Quelle erreichte, legte er Speer und Brustpanzer nieder, um sich ihr unbewaffnet zu nähern. Dann flüsterte er in die Stille:
    »Hier steht Odin und ruft Urd, Werdandi und Skuld. Zeigt euch mir, Schicksalsschwestern, zeigt euch dem Götterfürst.«
    Kaum hatte Odin das letzte Wort gesprochen, stieg aus der Quelle weißer Nebel auf und nahm die Gestalt einer Frau an. Aus der Nebelfrau lösten sich sogleich zwei weitere Frauengestalten und schwebten nun weiß und fastdurchsichtig über der Quelle. Wie beim letzten Mal trug jede von ihnen eine Spindel in der Hand, mit der sie fortwährend einen zarten, glänzenden Faden spannen.

    »Wir sind Urd, das Vergangene, Werdandi, das Bestehend, und Skuld, das Kommende.«
    Alle drei Nornen bewegten den Mund, als sprächen sie, aber Odin hörte nur eine Stimme,

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