Die Nordischen Sagen
entgleisten. Seine vier Augen schielten in alle Himmelsrichtungen, er stolperte über seine eigenen Füße und ruderte wild mit den Armen durch die Luft, um nicht der Länge nach hinzufallen.
Dennoch erreichte er Loki schließlich und hob seinen gigantischen Fuß, um ihn zu zertreten. Und da Loki den Riesen seltsamerweise nicht wahrzunehmen schien, musste Thor handeln. Fast war es, als würde sich der Hammer seiner Hand entwinden. Er kam frei, er flog und er tötete. Die Waffe zertrümmerte beiden Köpfen nacheinander die Schädeldecke, und der Koloss fiel ohne einen weiteren Laut zu Boden. Was weiter geschah, nahm Thor nur noch wie durch einen Schleier wahr. Andere Riesen kamen, wendigere, gefährlichere. Sie kamen und griffen an, doch Mjöllnir streckte auch sie nieder. Als es vorbei war, legte Loki Thor einen Arm um die Schultern und blickte schweigend über die Leichen. Thor wollte etwas sagen, aber er konnte es nicht. Kein Laut kam aus seiner Kehle.
Loki ließ ihn los und klopfte ihm nochmals aufmunternd auf die Schulter. »Ich kann mir denken, wie du dich fühlst, Thor. Dumme Kerle, wollten nur essen. Und jetzt sind sie alle tot. Durch deine Hand umgekommen.«Er stieß mit dem Fuß gegen einen der schlaffen Körper und schüttelte bedauernd den Kopf. »Aber mach dir keine Vorwürfe, du hattest keine Wahl. Du hast mein Leben gerettet, Bruder.«
Thor litt sehr an dem, was sich im Grenzland zugetragen hatte. Er ging auch zu Odin und erzählte alles. Die ganze Wahrheit.
Doch der Göttervater wollte nichts von Thors Gewissensbissen hören. »Loki ist schon bei mir gewesen und hat mir alles berichtet. Sie wollten ihn töten, du hast sie getötet. Gott schlägt Riesen, also was soll das Weibergeheule? Sieh lieber zu, dass du noch ein paar erwischst.«
Aber Thor fand keine Ruhe, und so fasste er eines Abends einen Entschluss und eilte zu Loki, um mit ihm darüber zu reden. »Es ist an der Zeit, dass wir Frieden schließen mit den Riesen. Ich werde ihnen die Hand reichen. Was meinst du, Loki?«
Der Feuergott strich sich seine kupfergoldenen Haare aus der Stirn und lächelte. »Du bist wirklich der edelmütigste der Götter. Die Riesen sind schlecht und wollen die alte Ordnung umstoßen. Du aber gehst auf sie zu. Das ist Größe! Laden wir einige von ihnen zu einem Festmahl ein.«
Und so geschah es.
Natürlich sprach es sich in Asgard schnell herum, dass ausgerechnet Thor, der Riesentöter, den Erbfeinden Asgards den Frieden anbieten wollte. Und die Götter waren sich durchaus nicht einig, ob Thor nun verrückt war oder großmütig.
»Kein Gott traut einem Riesen!«, brüllte Odin, als Thor ihm von seiner Idee erzählte, »das war schon immer so und wird auch immer so bleiben. Riesen zerstören, was wir aufbauen, sie hassen uns, und außerdem stinken sie. Was also soll das?«
»Lass es mich wenigstens versuchen, Vater«, antwortete Thor, »vielleicht könnten wir so Frieden stiften zwischen den Welten.«
»In deinem Haus kannst du machen, was du willst.« Der Runenstein, den Odin in der Hand gehalten hatte, rieselte als feiner Steinstaub aus seiner rechten Faust. »Aber ich werde dem Treffen nicht beiwohnen.«
Und dabei blieb es. Einige der anderen Götter aber, darunter auch der Lichtgott Balder, der sanfte Höd und sogar die Vanengöttin Freyja mit ihrem Bruder Freyr, nahmen die Einladung an und versprachen, Thor bei seinem ungewöhnlichen Vorhaben zu unterstützen. Um die gefährlichen Gäste aus Jötunheim zumindest etwas unter Kontrolle zu haben, entschied Thor, nur einige ausgewählte Riesen einzuladen, wie die freundliche Riesin Grid, den Meerriesen Ägir und den mächtigen Riesenkönig Thrym.
Ein Bote überbrachte die Einladung. Und sie kamen. Sie kamen alle, wenn auch viele der ungewöhnlichen Gäste dem Friedensangebot des Donnergottes misstrauten.
Das Fest war prachtvoll. Thors Palast Bilskirnir war geschmückt wie sonst nur zur Feier des Winterendes. Alles war hell erleuchtet. In jedem der 540 Räume brannten riesige Fackeln, auf dem Boden waren Felle ausgebreitet, und die lange Tafel bog sich unter der Lastköstlicher Speisen. Als Zeichen des Friedens und seiner guten Absichten hatte Thor an diesem besonderen Abend auf seinen Zauberhammer Mjöllnir, die eisernen Kampfhandschuhe und auch auf den Kraftgürtel verzichtet.
»Vergiss es, Donnergott«, knurrte Thrym, der Riesenkönig, als Thor ihn aufforderte, seine Waffen ebenfalls abzulegen. »Ääääärrrrr ... Seit wann kann ein Riese einem
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