Die Nordischen Sagen
geholfen hatten. Er nahm den Dolch aus Lokis Hand und schnitt sich selbst in den Arm. »Für Odin!«, flüsterte auch er, als das helle Blut hervorquoll und auf den Boden tropfte.
Dann kniete er nieder, vermengte Erde und Blut miteinander, wie es der Brauch verlangt, und streckte Loki seinen Arm entgegen. Loki kniete ebenfalls nieder. Sie pressten ihre Wunden aufeinander, und Thor sprach den heiligen Eid: »Bei Odin, meinem Vater, und allen Göttern schwöre ich, dich wie einen Bruder zu lieben. Dein Freund soll mein Freund sein, und deine Feinde sind die meinen. Ich gelobe dir Beistand in allen Dingen des täglichen Lebens, und sollte dir ein Unrecht widerfahren, werde ich es rächen.«
Gerade als auch Loki den Schwur sprechen wollte, knackte es etwas entfernt von ihnen im Unterholz. Sofort sprang Thor auf, um das Feuer zu löschen, aber Loki hielt ihn zurück. »Natürlich sind es Riesen. Der Fleischgeruch lockt sie an, aber warum sollen wir uns verstecken?«
Thor schüttelte den Kopf. »Es ist dunkel. Lass uns den Frieden dieser Nacht wahren. Wenn wir das Feuer löschenund der Geruch des Fleisches nachlässt, dann werden sie nicht herkommen. Loki, ich will nicht mehr so oft töten.«
Aber Loki achtete nicht auf die Bitte seines Freundes. »Wir waren zuerst hier, und ein Gott versteckt sich nicht.« Und er fachte das Lagerfeuer weiter an, bis es loderte wie ein Scheiterhaufen.
Bald darauf brach ein Riese aus dem Dickicht hervor. Er war bucklig, und seine Arme waren so lang, dass sie beinahe über den Boden schleiften. Mit halb geschlossenen Augen folgte er dem Bratenduft und ging nun direkt auf die Feuerstelle zu. Gerade wollte er nach dem Fleischspieß greifen, da trat Loki aus dem Schatten. »Ich glaube, Riese, du versuchst, die Götter zu bestehlen.«
Der Riese fuhr herum, aber noch bevor er Loki überhaupt ansehen konnte, hatte der Feuergott ihn schon mit einem Flammenstrahl getroffen, und der Riese fiel tot zu Boden.
Thor kniete neben dem qualmenden Leichnam nieder und sah dann zu Loki auf. »Warum? Er hatte nur Hunger.«
»Nein, er hat versucht zu stehlen, Thor. Wir müssen sie in ihre Schranken weisen.«
Noch während Loki sprach, näherten sich weitere Riesen der Feuerstelle. Sie hatten gesehen, was vorgefallen war, und brüllten nun vor Zorn und Rachsucht.
»Gott totmachen«, grölte der größte von ihnen. »Ja, tothauen«, wiederholte er mit merkwürdig veränderter Stimme, während er mit seinem gewaltigen Körper eine Schneise durch den Wald schlug und wie ein gigantischer Schattenberg auf Loki zuwalzte.
»Sie greifen uns an«, sagte Loki ruhig und wandte sich zu Thor um, »ich denke, du solltest sie bestrafen.«
Aber Thor zögerte. »Von sich aus hätten sie nicht angegriffen. Es wäre nicht richtig, sie zu töten.«
»Nun, Blutsbruder«, sagte Loki und zog die Augenbrauen hoch, »sie kommen, um mich zu ermorden.«
Noch niemals war es Thor so schwergefallen, seinen Hammer aus dem Gürtel zu lösen. Es schien ihm, als läge das Gewicht ganz Midgards in seinen Händen. Unendlich mühsam streifte er die Eisenhandschuhe über und holte mit Mjöllnir aus. Wie gewöhnlich empfand er die Macht des Hammers in seinem Körper. Sein Wille, der mit Mjöllnirs Willen verschmolz. Und doch, dieses Mal stellte sich ein anderes Gefühl gegen diesen fremden Willen, ein Gefühl, das nur Thor allein gehörte. Das Gefühl, dass es falsch war, was er tat.
Inzwischen aber war der erste Riese ganz aus dem Dunkeln getreten, und der Feuerschein beleuchtete seine abstoßende Erscheinung. Er war gigantisch. Auf dem plumpen Körper saßen zwei Köpfe, die sich offenbar nicht einigen konnten, wer die Führung übernehmen sollte. Was zur Folge hatte, dass der Riese sich noch ungeschickter bewegte, als es Riesen ohnehin schon tun. Die beiden Köpfe stritten unentwegt miteinander. Beide dachten aber so langsam, dass viel Zeit verstrich, bis der eine Kopf auf das antworten konnte, was der andere gesagt hatte. Dieses Geschöpf nun schwankte auf Loki zu. Und Loki lachte. Er lachte über den Anblick seines unbeholfenen Gegners so sehr, dass er sich auf den Boden fallen ließ und sein Gesicht mit den Händen bedeckte.
Der Riese war sichtlich verwirrt.
»Der lacht«, sagte der eine Kopf des Riesen.
»Der weint«, antwortete der andere.
»Lacht.«
»Weint.«
»Lacht.«
So ging es immer weiter. Der Wortwechsel der beiden Köpfe verlangte dem Riesen so viel geistige Energie ab, dass alle anderen Körperreaktionen
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