Die Nordischen Sagen
in all der Zeit nichts bemerkt. So viel Gutgläubigkeit muss man schon Dummheit nennen.«
Odin wandte sich von seinem Sohn ab und wollte weitergehen, aber Thor hielt ihn zurück. »Ich muss dich wohl daran erinnern, dass du es warst, der Loki sofort vertraut hat. Wirklich, du verdienst deinen Namen: Odin, der Allwissende. Wie einen Sohn hast du diesen Verräter behandelt.« Zornig trat Thor einen Stein zur Seite und lachte höhnisch, als er weitersprach: »Ein wunderbarer Sohn. So wortgewandt und sicher, weder gutgläubig noch einfältig. Nur schade, dass er uns vernichten will.«
Vater und Sohn waren inzwischen so laut geworden, dass Heimdall und Skadi, die schon vorausgegangen waren, noch einmal zurückkehrten.
»Wollt ihr Loki warnen, mit eurem Geschrei? Er hat uns alle getäuscht«, rief Heimdall und blickte gereizt zwischen Vater und Sohn hin und her.
»Getäuscht ja, aber ich war niemals seine Geliebte«, sagte Skadi nun zum wiederholten Mal und versuchte Heimdalls Aufmerksamkeit zu erlangen. Doch bevor sie erneut ihre Unschuld beteuern konnte, hatte Heimdall sich schon wieder umgewandt und ging davon.
Ohne einander anzusehen, setzten Odin und Thor ihren Weg fort, und auch Skadi folgte ihnen mürrisch.
Nach kurzer Zeit erreichten sie den Wildbach, der zwischen den Felsen entsprang und direkt ins Meer mündete. Schweigend knüpften sie ein Netz und zogen es durch das Wasser. Pflanzen verhedderten sich darin, ein kleiner Fisch erkannte die Gefahr nicht und zappelte bald zwischen den Schnüren. Aber Odin bückte sich und warf den Fisch zurück in den Bach. Ein weiteres Mal warfen die Götter das Netz aus. Dann noch mal und ein viertes Mal. Plötzlich stiegen aus dem Wasser große Blasen auf, und ein riesiger schillernder Lachs tauchte daraus hervor. Er sprang in die Luft und setzte über das Netz hinweg. Einen Moment lang blickte Thor in die Augen des Tieres. Kein Fisch in keiner Welt hatte diese Augen.
»Das ist er, Vater, das ist Loki. Wir haben ihn gefunden.«
Doch der Lachs glitt wieder ins Wasser und versteckte sich zwischen Wassergras und Algen.
Die Götter beschwerten das Netz mit Steinen, und als Loki versuchte, ein weiteres Mal darüber hinwegzuspringen, packte ihn Thor am Schwanz und warf ihn ans Ufer. Augenblicklich nahm Loki wieder seine göttliche Gestalt an.
»Hast du gedacht, wir würden dich nicht finden?«, sagte Thor leise und blickte voller Abscheu auf den Verräter. »Hast du gedacht, wir würden alles vergessen? Ich würde vergessen?«
»Tötet ihn. Tötet ihn sofort oder lasst mich es tun«,kreischte Skadi und stürmte mit einem großen Felsbrocken auf Loki zu, um ihn damit zu erschlagen.
Loki kroch vor den Göttern im Sand, aber er lächelte. »Uhhhh. Die Rache der Götter! Vier gegen einen, wie überaus tapfer. Sogar du, Skadi. Ich hätte unser Geheimnis nicht verraten sollen, nicht wahr?«
Skadi holte aus, um Lokis Haupt zu zertrümmern, doch Thor hielt sie zurück. »Nein, Skadi, nicht so. Der Tod ist nicht genug. Und vielleicht können wir ihn noch brauchen.«
Erschöpft ließ Skadi den Stein wieder sinken, und Odin legte einen Arm um ihre Schulter. »Thor hat recht. Er soll leiden. Er soll spüren, was Schmerz bedeutet. Wir bringen ihn in die Atla-Schlucht.«
Loki kauerte im Sand und blickte lauernd zu den Göttern auf.
»Ist das nun Gnade, Dummheit oder Leichtsinn?«
Mit einem Schritt war Thor bei Loki und setzte ihm den Fuß auf die Kehle. »Sei unbesorgt, Loki. Du wirst sterben. Es wird nur etwas länger dauern.«
Loki wand sich auf dem Boden und versuchte, Thors Fuß abzuschütteln. Seine Augen waren schwarz geworden, und Speichel lief aus seinem Mundwinkel.
»Immerhin zerbricht gerade alles, was ihr erschaffen habt. Egal, was ihr mit mir macht, Ragnarök könnt ihr nicht mehr aufhalten. Meine Kinder werden euch zerstören. Euch alle ... schon heute Nacht.«
Die Midgardschlange Jörmungand war groß geworden. Seit Odin sie ins Meer verbannt hatte, war ihr Leib sosehr gewachsen, dass er nun Midgard wie ein Gürtel umspannte. Wenn sie sich bewegte, schwappte das Meer in einer gewaltigen Brandung über die Ufer. Manchmal waren es einfach nur sanfte Wellen. Dann aber gab es auch die Tage, an denen Jörmungand an ihren Vater dachte, an Loki. Und daran, wie er mit ihrer Hilfe die Götter vernichten würde. Jörmungand dachte auch an Thor und dass sie ihn bald töten würde. Dass sie alle töten würde. Dass sie nur lebte, um zu töten.
An diesen Tagen sah das Meer
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