Die Nordischen Sagen
aus, als würde es kochen. Aufgepeitscht, bleigrau und mit weißen Schaumkronen. Und wer an solchen Tagen mit seinem Schiff draußen auf dem Meer war, der verschwand in den Fluten.
Seit Balders Tod hatte sich die See nicht mehr beruhigt. Und so wie alle Kreaturen der Nacht spürte auch die Midgardschlange, dass Ragnarök nicht mehr fern war.Wer auf dem Boden der Atla-Schlucht stand, sah den Himmel nicht, so hoch ragten die Steinwände zu beiden Seiten in die Höhe. Das dunkle Grau der Felsen wurde nur durch einige Höhlen unterbrochen, die wie große schwarze Augen aus den Wänden starrten. Niemand wusste, wohin diese Höhlen führten, es hieß aber, dass sie untereinander verbunden waren. Ein Labyrinth aus Gängen und Schächten, das sich durch den Berg bis ins Innerste Niflheims zog.
In eine dieser Höhlen schleppten die Götter Loki.
»Eine Höhle in der Atla-Schlucht? Das ist meine Bestrafung?« Loki lachte laut auf. »Ist nicht auch mein lieber Sohn ganz in der Nähe untergebracht? Die Familie kommt wieder zusammen. Wahrscheinlich wird mich bald auch noch meine Tochter Hel besuchen.« Unsicher flackerten Lokis Augen zwischen den Göttern hin und her. »Ich kenne mich hier besser aus als du, Odin. Alle Geschöpfe der Dunkelheit sind meine Verbündeten, was also hast du vor?«
»Du wirst diesen Ort nie wieder verlassen. Egal, wie viele Verbündete du hast oder ob die Totengöttin zu dir kommt.«
Auf Odins Wink hin führte Skadi zwei junge Männer herein. Loki warf Odin einen lauernden Blick zu. »Meine Söhne, Narwi und Wali. Na und?«
Thor betrachtete die beiden Jünglinge, wie sie dastanden, schön und anmutig wie ihr Vater, und wie doch dasselbe böse Feuer in ihrem Blick loderte.
Lokis Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Wollt ihr die beiden jetzt vor meinen Augen umbringen, ja? Istdas die grausame Rache, die sich Thor für mich überlegt hat? Wollt ihr mich damit quälen? Dann nur zu. Mir liegt nichts an den beiden, ich habe noch genug andere Kinder.«
Odin schüttelte gleichgültig den Kopf. »Mir liegt auch nichts an ihnen.«
Dann deutete er auf Wali und schnippte mit den Fingern, und der junge Mann verwandelte sich augenblicklich in einen Wolf.
Als Loki den Wolf sah, schüttelte er sich vor Lachen. »Das ist ja beeindruckend. Ein Wolf. Magst du Wölfe auch so gern wie ich?«
Aber noch während Loki lachte, fiel der Wolf seinen eigenen Bruder Narwi an, biss ihm die Kehle durch und zerriss ihn.
Loki hatte aufgehört zu lachen und sah Odin einen Moment fassungslos an, doch dann zuckte er mit den Achseln. »Wie gesagt, damit könnt ihr mich nicht treffen.«
»Das wollen wir auch gar nicht«, sagte nun Thor, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. »Wir brauchen eine Fessel, und Blutsbande lassen sich nicht zerreißen.« Ausdruckslos suchte Thor die Gedärme aus den Resten Narwis heraus und band Loki damit an den Fels.
»Ihr seid nicht besser als wir Riesen, wenn euch das Morden so leichtfällt«, stieß Loki hervor, während Thor die Fesseln so straff zog, dass die scharfen Steinkanten in Lokis Arme und Beine schnitten. »Aber meine Armeen werden euch zermalmen.«
Ganz dicht trat Thor an Loki heran. »Ich hasse michdafür, dass ich dir jemals vertraut habe. Du hast uns alle geblendet, Loki, aber weißt du, was ich am widerwärtigsten fand? Du hast Höd dazu benutzt, seinen eigenen Bruder zu ermorden. Er kann nichts sehen, Loki. Du hast seine Blindheit ausgenutzt. Und deshalb hast du eine Strafe verdient, die länger währt als ein schneller Tod.«
Die Berggöttin trat vor Loki hin, legte die Hände aneinander und pustete hinein. Als sie die Handflächen wieder auseinanderklappte, wand sich eine grün schimmernde Schlange darin.
»Sie ist so giftig, dass selbst ein Gott sich vor ihr in Acht nehmen muss.« Thors Stimme war freundlich, als er weitersprach. »Erinnert sie dich nicht ein wenig an deine Tochter Jörmungand? Nun, diese hier werde ich direkt auf deinem Kopf ablegen. Die Augen kannst du ja noch bewegen, Loki. Also los, sieh nach oben!«
Aber kaum blickte Loki nach der Schlange in seinem Haar, da öffnete sie den Kiefer und ihr giftiger Speichel troff in seine Augen. Loki brüllte vor Schmerz und zerrte an seinen Fesseln, aber er konnte sich kaum bewegen.
»Das ist deine Strafe«, sagte Thor und betrachtete den Halbriesen, den Odin zum Halbgott erhoben hatte und der einmal sein bester Freund gewesen war. »Das Gift der Schlange wird unablässig in deine Augen tropfen. Von mir aus
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