Die Novizin
Inbrunst, dass wir beide besiegt würden?
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Kennt Ihr Toulouse? Es wird als eine der heiligsten Städte Frankreichs betrachtet. Es liegt auf der Pilgerroute nach Santiago de Compostela und verfügt deswegen über eine Vielzahl von Kapellen, Siechenhäusern und Schänken. Wallfahrer aus ganz Frankreich kommen hierher. Sie wollen an den Grabstätten der Heiligen in der Kathedrale des Heiligen Stefan beten, in der Kirche Notre Dame de la Daurade mit ihren berühmten goldenen Mosaiken von Christus, wollen der Jungfrau und Abraham einen Besuch abstatten oder sich die heiligen Reliquien ansehen, die im Kloster von Saint Sernin aufbewahrt werden. Dort halten unsere Inquisitoren Gericht und verkünden die Strafen für jene Ketzer, die nicht von ihren gottlosen Wegen lassen wollen.
In den Sommermonaten zogen stets Pilger durch die Gassen und sangen Hymnen. Oft bildete sich eine Menschenmenge aus Einheimischen und spendete ihnen Beifall. Allerdings befürchte ich, dass die Pilger nur willkommen geheißen wurden, weil sie Geld in die Stadt brachten. Es gab keinen Pastetenbäcker oder Priester, der nicht von ihnen profitierte.
Manchmal hielt sogar ich auf meinem Weg durch die Stadt inne, um die Wallfahrer zu mustern. Einige von ihnen hatten Bleiabzeichen an ihre Gewänder oder Kopfbedeckungen genäht. Zwei gekreuzte Schlüssel zum Beispiel zeigten an, dass der Träger schon einmal in Rom gewesen war. Viele trugen eine Jakobsmuschel vom Grab des Heiligen Jakob in Santiago de Compostela, jenseits der Pyrenäen. Das berühmteste und wertvollste Emblem war ein Palmwedel, der bedeutete, dass der Pilger die große Wallfahrt nach Jerusalem auf sich genommen hatte.
Fast alle Pilger trugen einen langen Knüttel mit Haken, an den sie ihre Wasserflasche und andere Notwendigkeiten gehängt hatten. Einige gingen zum Zeichen der Reue barfuß.
Mochte ihr Einzug in die Stadt auch festlich sein – nicht alle kamen freiwillig. Viele von ihnen waren bekehrte Ketzer, denen die Pilgerfahrt als Buße für ihre Sünden auferlegt worden war. Auf ihrer Kleidung prangten gelbe Kreuze, und sie mussten die Geistlichen in den jeweiligen Kirchen um Briefe bitten, die bezeugten, dass sie ihre Reise ordnungsgemäß absolviert hatten.
Toulouse ist jedoch nicht nur eine heilige Stadt, sondern auch eine Stadt der Kaufleute und Bürger, die nicht von einem Bischof, sondern von einem gewählten Konsul regiert wird. In den Straßen drängen sich Pilger und Mönche, aber ebenso prächtig gekleidete, feiste Männer, die mehr Gold in ihren Beuteln haben als gut für sie ist.
Dies mag jedoch ein allzu hartherziges Urteil sein.
Wie in jeder florierenden Stadt trifft man auch in Toulouse auf Bettler jeglicher Art, vor denen sich ein rechtschaffener Mann in Acht nehmen muss. Einige täuschen ihre blutigen Schwären nur vor, indem sie mit Maulbeersaft getränkte Lumpen um völlig gesunde Gliedmaßen binden und sich dann an Stöcken durch die Gassen schleppen. Sie nehmen den wirklich Armen bei Tag die Almosen weg und verwandeln sich des Nachts in Schurken und Beutelschneider, die einem redlichen Mann für ein paar Silberstücke die Kehle aufschlitzen.
Doch als ich mir am Morgen des folgenden Tages einen Weg durch die engen Straßen bahnte, war ich geneigt, zu ihnen allen großzügig zu sein – vielleicht, weil mir die Schuld schwer auf der Seele lastete.
Ich muss sagen, dass es in Toulouse sehr viel weniger Ketzerei gab, als der Heilige Vater und seine Legaten annahmen. Wenn man manche Leute reden hörte, konnte man meinen, die Stadt sei immer noch ein Schlangennest voller Katharer und Waldenser. Falls es sie tatsächlich noch gab, dann wohl in diesen verwinkelten Gassen an der Garonne, nahe den Werkstätten der Bleicher, Flickschuster und Gerber rings um die Kirche St.-Pierre-de-Cuisines. Dorthin waren die alteingesessenen, vermögenden Bürger gezogen, jene Bürger, die die Ketzerei pflegten, weil sie in ihr eine Methode zur Schwächung des Klerus sahen. Sie verachteten die Geistlichkeit, die mit ihnen um Macht und Reichtum konkurrierte.
Mein Weg führte mich durch mehrere schäbige Gassen, gesäumt von Werkstätten und Händlerständen. Die heiseren Schreie der Händler, die Flüche der Huren und das Kreischen der rotznäsigen Kinder waren eine Plage. Halbwüchsige lungerten in Horden herum, verspotteten alte Frauen und Lahme und lieferten sich vor den Schänken Faustkämpfe.
Die Einwohner von Toulouse hatten nur eine Möglichkeit, ihren Abfall
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