Die Obamas
der Schüler erhielten diesmal ein Diplom, bis auf wenige Ausnahmen würden alle Absolventen anschließend ein College besuchen können. [55]
Die Abschlussfeier fand im geschichtsträchtigen Saal der Daughters of the American Revolution Constitution statt. Hier hatte im Jahr 1939 die ursprünglich nur aus weißen Mitgliedern bestehende Frauenorganisation der farbigen Altistin Marian Anderson einen Auftritt untersagt – sehr zur Empörung der damaligen Präsidentengattin Eleanor Roosevelt. (Sie lud die Sängerin stattdessen ins Weiße Haus ein.)
Doch nun stand Michelle Obama im blassblauen Kleid mit doppelreihiger Perlenkette auf der Bühne, und der ganze Saal rief: »Love you!«
Sie sprach über die Geschichte der Anacostia-Schule und zog eine direkte Linie von der Rassentrennung der Vergangenheit – in manchen Stadtteilen war Grundbesitz für Afroamerikaner lange illegal gewesen – zu den heute herrschenden Problemen. Aber sie korrigierte auch das negativ besetzte Image der Schule, sprach über die lobenswerte Ausdauer der Schüler und berühmte Absolventen, darunter Frederick Douglass, der für die Rechte der Schwarzen gekämpft hatte.
»Vielleicht habt ihr das Gefühl, dass euer Schicksal schon am Tag eurer Geburt feststand – und dass euch nichts anderes übrigbleibt, als eure Hoffnungen zu zügeln und eure Träume zurückzuschrauben. Ich bin hier, um euch zu bitten: Hört damit auf! Tut so was nicht«, erklärte sie.
Bis zu seinem Amtsantritt als Präsident waren die Reden Barack Obamas ähnlich mitreißend gewesen: fesselnde Aufrufe voller Hoffnung, Auftritte, bei denen handfeste politische Details rar waren. Inzwischen gab er mehrmals täglich Statements ab, verfasst von einem Team von Redenschreibern, die altes Material aus seinen Büchern und früheren Reden zusammenbauten. Aus Angst vor möglichen Fehlern redete der Präsident ungern frei. Reden mit diplomatischem oder politischem Inhalt waren zunehmend in einer Art kodierter Sprache verfasst – weniger für die normale Bevölkerung als für die verschiedenen Kongressführer und Stammwähler, die genau darauf achteten, welche Begriffe benutzt wurden oder fehlten. Und irgendwie waren diese förmlichen Präsidentenreden und wöchentlichen Radiobotschaften im Zeitalter von Facebook und Telefonkonferenzen ein wenig altmodisch. Nur gelegentlich kam die sensible, gefühlvolle Seite Obamas zum Vorschein. So im vergangenen Sommer im Weißen Haus bei der Unterzeichnung eines Gesetzes zur stärkeren Strafverfolgung sexueller Nötigung. Damals war Lisa Marie Iyotte, Opfer und Überlebende einer Vergewaltigung, auf dem Podium zusammengebrochen, als sie die einleitenden Worte sprechen sollte. Der Präsident hatte sofort eingegriffen und der Frau seine Hand beruhigend auf den Rücken gelegt, bis sie alles berichtet hatte: wie sie zusammengeschlagen und vergewaltigt worden war und wie ihre beiden kleinen Mädchen sich hatten verstecken müssen. Aber solche Momente waren inzwischen selten geworden.
Die Glanzlosigkeit und Routiniertheit mancher seiner Reden ließ an seine nie diskutierten Gefühle über seine Präsidentschaft denken. Seine Mitarbeiter waren sich einig, dass es eine Grundregel für Obamas Reden gab: Wenn er enthusiastisch war und tief überzeugt von dem, was er sagte, dann war er ein guter, womöglich sogar ein großer Redner. Wenn er etwas nur aus politischer Notwendigkeit heraus sagte, weil es unumgänglich war, war sein Vortrag miserabel, gleichgültig, wie hart er an der Rede gearbeitet hatte.
In dem Maße, in dem die persönliche Stimme des Präsidenten verschwand, verschaffte sich die First Lady Gehör. Anders als der Präsident arbeitete sie selbst intensiv an ihren Reden, auch an solchen, die sie vor kleinen Gruppen wie den Absolventen der Anacostia High School hielt. »Ich weiß noch genau, wie sich unsere Eltern für uns geopfert haben und uns alles gaben, was sie hatten«, erklärte sie in jener Rede mit bebender Stimme und unterstrich ihre Worte mit ausladenden Gesten. »Sie waren für uns da und ermutigten uns zu einem Leben, das sie selbst
nie
kennenlernen durften.« Sie schüttelte den Kopf und rang nach Atem, wie schon bei ihrer Rede an der Mädchenschule in London: Sie konnte sich in die Jugendlichen hineinversetzen und spürte, was es für diese bedeutete, dass sie vor ihnen stand. Es spielte keine Rolle, dass ihr Elternhaus unendlich stabiler gewesen war; dass die junge Michelle nie und nimmer im Unterricht gefaulenzt
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