Die Obamas
konnte die First Lady sich nicht mehr auf den Beinen halten. Es war spät, und es war alles zu viel gewesen. Sie ging nach oben in ihre neue Wohnung und legte sich zum ersten Mal im Präsidentenschlafzimmer allein ins Bett. Der neue Präsident war noch nicht in der Stimmung, den Tag zu beenden. Der Moment, als sich Hunderttausende Bürger jeder Hautfarbe und sozialen Schicht auf der Mall versammelt hatten, war das, wovon er immer geträumt hatte, wie er später sagte, der sichtbare Beweis für seine Überzeugung, dass das Land in der Lage war, die alten Gegensätze zu überwinden. Er mochte sich ein bisschen abgeschnitten von den Feierlichkeiten fühlen, weil er nicht die mit jubelnden Menschen überfüllten U-Bahnen und die ausgelassene Stimmung auf den Straßen erleben konnte. [13] Aber jetzt konnte er den Ernst des Tages abstreifen und selbst auch feiern. Er plauderte und strahlte, so entspannt, wie seine Freunde ihn schon lange nicht mehr erlebt hatten.
»Morgen früh wachst du im Weißen Haus auf«, sagte Rachel Goslins, eine Freundin, zu später Stunde zu Obama. Aber ihre Worte kamen gar nicht richtig bei ihm an. Nach zwei Jahren Wahlkampftour könne er überall schlafen, erwiderte er lapidar.
Das Leben ihres Freundes sei neuerdings komplett durchprogrammiert, meinte Julius Genachowski, Rachel Goslins’ Ehemann. Die letzten Tage habe er nur noch automatisch funktioniert und seine Texte heruntergerasselt und wirklich keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie es sein würde, eines Morgens aufzuwachen, an dieselbe Zimmerdecke zu starren wie Nixon und Reagan und festzustellen, dass er der Präsident der Vereinigten Staaten war.
»Ja, aber den ersten Morgen im Weißen Haus erlebst du nur einmal«, sagte Goslins.
Obama überlegte. »Weißt du was? Da hast du recht«, sagte er lächelnd. Er machte sich auf den Weg nach oben. Es gab nur ein Problem: Barack Obama hatte keine Ahnung, wo sich das Schlafzimmer befand.
So erging es den Obamas bei ihrem Einzug ins Weiße Haus: Offiziell hatten sie das Sagen, aber sie hatten überraschend wenig Kontrolle über ihre unmittelbare Umgebung. Im Laufe von Jahrzehnten hatten die Hausangestellten, der Secret Service und das Militär die Regeln festgelegt, die das Leben des Präsidenten bestimmten: wie viele Scharfschützen nötig waren, um die Sicherheit derjenigen zu garantieren, die sich auf dem Truman-Balkon entspannten; wie viele Agenten des Geheimdiensts die einzelnen Familienmitglieder begleiten mussten, wenn sie das Haus verließen. Sie bestimmten, wann die First Lady ein Plätzchen essen durfte, das ein Erstklässler für sie gebacken hatte, und wie viel Personal dem Präsidenten im Alltag zustand (mindestens zwei Hausdiener, die sich um seine Garderobe kümmerten und seine Koffer packten, ein Navy Steward, der ihm das Essen servierte, ein Kellner und sechs Butler für die Präsidentenwohnung und zwei persönliche Diener für alles Weitere). Man konnte sogar den jeweiligen Aufenthaltsort der Mitglieder der First Family innerhalb und auch außerhalb des Weißen Hauses auf kleinen Bildschirmen überwachen, auf denen die Geheimdienst-Codenamen der einzelnen Personen angegeben waren (»Renegade« für den Präsidenten und »Renaissance« für die First Lady). Historisch betrachtet, hatte das Ganze etwas Ironisches: Es gehört zum Selbstverständnis der Vereinigten Staaten, dass ihr Präsident ein ganz normaler Bürger ist; George Washington, der den Bau des Weißen Hauses in Auftrag gab, wollte, dass es aussah wie ein Wohnhaus, nicht wie ein europäischer Fürstenpalast. Aber zweihundertdreißig Jahre später waren die meisten europäischen Monarchien verschwunden, während für die Obamas ein neues Leben begann, das in vielerlei Hinsicht eher typisch war für einen Regenten des 19 . Jahrhunderts, mit einem Heer von Personal, dessen Größe und Spezialisierungsgrad jedem Königshaus Konkurrenz machen konnte.
Von Anfang an fühlten sich die Obamas im Weißen Haus in zwei verschiedenen Welten. Berater planten die ersten Tage der Präsidentschaft minutiös durch, um Barack Obama als Mann der Tat zu zeigen, der seine Wahlversprechen zügig einlöst. Die ersten ausländischen Staatsmänner, die er anrief, waren Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, und König Abdullah II . von Jordanien, da ihm der israelisch-palästinensische Friede ein vorrangiges Anliegen sei, wie er ihnen mitteilte. Er traf sich mit dem vereinigten Generalstab, der
Weitere Kostenlose Bücher