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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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Anstalten zu einer Pause, seine Bewegungen waren effektiv, knapp, ohne Verschwendung.
    »Moin«, sagte Schlüter laut, während die Säge auf Standgas am Boden puckerte.
    Diedrich Schlichtmann wendete seinen Rollstuhl, fuhr mit einem seiner langen Arme zur Säge und knipste sie aus.
    »Ssü!«, begrüßte er die Besucher mit einem grimmigen Lächeln. »Dor is de Avkoot. Moin ok {5} .« Er beugte sich vor, packte die beiden Kloben, warf sie auf den Haufen. Die Begrüßungshand ließ er in der Luft stehen. Eine sehr große Hand an einem Mann, der seine Zeit nutzte.
    Schlüter kam sich klein vor und ließ seine weiche Bürohand in der schwieligen Schaufel des Altbauern verschwinden. Er wartete auf den Schmerz, aber der Griff war überraschend sanft. Der alte Bauer hatte einen fast kahlen braun gebrannten Schädel, auf dem sich der Schweiß mit dem Sägestaub mischte, einen herkulisch trapezförmigen Oberkörper und lange Beine, von denen das eine sehr dünn und am Rollstuhl festgeschnallt war. Das andere hielt er in den Boden gestemmt, den seine Pranken zu berühren schienen.
    Ein Schimpanse, dachte Schlüter. Ein Nachfahre der Ahnen mit Keule.
    »Lot uus ringohn {6} , sagte Schlichtmann und setzte seinen Rollstuhl in Bewegung.
    Ein Scheit verklemmte sich in den Vorderrädern, der Alte stieß einen Fluch aus, und während Schlüter noch überlegte, ob er dem Invaliden helfen sollte und wie, hatte Schlichtmann das Holz schon gepackt und drei Meter hoch durch eine Lücke in einen Käfig aus Stahlmatten geworfen wie einen Dartpfeil. Schlüter bemerkte den Hauklotz, auf dem ein schwerer Spalthammer lag, und die Scheite, die drum herum lagen. Der Klotz trug die Spuren vieler wütender Hiebe.
    »Av geiht’t« {7} , befahl Schlichtmann, zog seine Augenbrauen zusammen und rollte weiter.
    Schlüters folgten dem Schimpansen, der seinen Rollstuhl mit starken Händen über das holprige Hofpflaster zur Ostseite des Niedersachsenhauses trieb, wo die Eingangstür war. Sie mussten sich beeilen, um Schritt zu halten.
    »Dieser Mann ist gefährlich!«, flüsterte Christa.

4. Kapitel
     
    In dem wir Kevin kennenlernen und eine Reklamezeitung
Horst Kurbjuweit auf dumme Gedanken bringt,
die noch Folgen haben werden
     
    Der Briefkasten hängt unten im Treppenhaus, in einer Reihe neben den anderen, an einer fleckigen olivgrünen Wand.
    Kurbjuweit geht nicht gern raus, aus der Wohnung nicht und erst recht nicht auf die Straße. Man trifft nur die Nachbarn, den Stachowiak, den Holzbearbeiter, die Thielpapesche oder wen auch immer. Karol Stachowiak ist ein kleiner knotiger Mann, wie aus Fels gehauen, mit breiten Schultern und einem narbigen Schädel, in dem zwei kalte Augen stecken. Er wohnt oben im zweiten Stock direkt über Kurbjuweit und hat dauernd irgendetwas im Keller zu erledigen, wo die Abstellkammern sind. Jede Wohnung hat eine, und dorthin geht der Polacke; seit einiger Zeit mindestens zwei Mal am Tag, was macht er da? Vor zwei Jahren ist er aus Polen gekommen, mit seiner Frau, und jetzt warten sie darauf, dass die Rente durchkommt, wie er Kurbjuweit erzählt hat, nachdem sie sich das dritte Mal begegnet sind. Sogar einen Rechtsanwalt habe man sich nehmen müssen.
    Heute kommt die Wochenzeitung, heute ist Samstag. Mittwochs und samstags kommt das Reklameblatt, so kann man die Woche einteilen. Kurbjuweit hat einen Hunger nach Leben, er will wieder in einen Zug einsteigen, ein Ziel haben, aber womit beginnen? Er sitzt tagaus, tagein in seiner Wohnung, meistens am Küchentisch, er ist müde, in seinem Kopf braust es, er ist vollgestopft mit den Bildern vom verpassten Leben, die ihn aus dem Fernseher anspringen, der Kopf muss in andere Luft kommen, auch wenn es nur die im Treppenhaus ist, und deshalb quält Kurbjuweit sich nun die Treppe hinunter, obwohl sein Rücken aus zerbrochenem Glas ist, die Splitter schaben bei jeder Bewegung an den Nerven, er stützt sich am Geländer ab.
    Während er die Zeitung aus dem Briefkasten zieht, raschelt es hinter ihm. Erschrocken fährt er herum und der Schmerz jagt ihm einen Feuerstoß durch den Leib. Zwischen den Kinder- und Einkaufswagen bewegt sich etwas. Kurbjuweit sieht einen dünnen Arm und einen halben Kopf.
    »Was machst du denn da?«, keucht er.
    Kevin, der Sohn der Thielpapeschen, kriecht hervor.
    »Ich warte«, sagt er mit kleiner Stimme und bleibt zwischen den Kinderwagen stehen.
    »Und worauf, wenn ich bitten darf?« Der Schmerz geht in ein Brummen über.
    »Dass ich wieder

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