Die Oder Ich
bessere Namen hatten: von Allwörden, Leidecker, Burfeind, Petersen, Kröhnke. Und von Rathjens, der von allen der Böseste war und natürlich der Faulste, er war sitzen geblieben, und deshalb war er größer und stärker. Kurbjuweit hatte sie gefressen, die Regenwürmer, einen nach dem andern, und er hatte so getan, als schmeckten sie ihm, damit keiner dachte, er hätte Angst vor der Prügel und davor, dass er sich die Hosen wieder vollpissen würde, und dass sie wieder »Pisser« schreien würden, im Kreis um ihn herumtanzen, »Pisser, Pisser«, nein, er tat, als habe er die Würmer freiwillig gegessen; und um es ganz zu beweisen und jeden Zweifel zu zermalmen, am nächsten Tag noch eine Tüte voll, um fünf Mark hatte er mit Leidecker gewettet, den sie ›Boskop‹ nannten wegen seines roten Kopfes. Hannelore, die Tochter des Pastors, die heilig war und Zöpfe trug, noch mit siebzehn, hatte sich übergeben, nur vom Zugucken. Über Kurbjuweits offenem Maul ringelten sie sich, die fetten Metten, blassrote Tiere mit dunkelroten Verdickungen, die Boskop in den fruchtbaren Außendeichsweiden ausgebuddelt hatte zum Aaleangeln, Kurbjuweit hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, ließ sie langsam runter wie Delikatessen, den Kopf im Nacken, sie ringelten sich verzweifelt, bis er sie fallen ließ und seine Lippen über ihnen schloss und ordentlich kaute und knirschte, während Leideckers roter Kopf immerhin grün wurde, und nachher haben sie es allen erzählt, dass Horschi Kurbjuweit Regenwürmer frisst, »der Pisser Kurbjuhu frisst alles«, er gewinnt jede Wette, und so ist Kurbjuweit nie wieder zum Regenwürmerfressen gezwungen worden und musste nur noch Porree essen.
Man muss sich durchkämpfen.
Er steht auf, er ächzt, denn ein Schmerz zieht seine Klinge durchs Rückenmark, Kurbjuweit geht drei Schritte, setzt sich wieder. Er wirft einen langen Blick auf den Lottozettel. Er nimmt den Schreibblock von der rechten Ecke des Tisches, reißt ein liniertes Blatt ab, faltet es, streicht die Faltkante mehrmals glatt und trennt das Blatt über der Tischkante in zwei Teile. Mit dem Kugelschreiber schreibt er:
Niemand ist ohne Schuld. Kein Mensch ist ohne Schuld. Nur Jesus. Halleluja. Es ist schön zu leben. Warum aber ist das Leben so kurz und schwer? Ein Scheiß ist das, hol’s der Kuckuck! Morgen Lotto! Es muss sein! Hier noch mal wegkommen und von vorn anfangen. Es müsste klappen. Hilfe habe ich nicht zu erwarten. Ich muss das allein schaffen. Rauchende Colts. Aber es kommen Tage, an denen geht alles gut. Und an anderen nicht!! Aber keines von diesen Schweinen wird auch nur einen Pfennig bekommen, wenn ich mal im Lotto viel gewinne. Denn sie sind verdammte Höllenbrut, deren Seelen erloschen sind! Na wartet, ihr Höllenhunde, wenn ich erst mal reich bin, dann gnade euch Gott!! Montag wird er nach Hemmstedt fahren, zu Schlüter, wegen dieses Briefes, der ihn aus dem Leben geworfen hat. Oder wann ist er aus dem Leben geworfen worden?
3. Kapitel
In dem Bauer Schlichtmann ziemlich verbissen Holz sägt,
aber noch nicht verraten wird, warum
Es half nichts, sie mussten hin. In der Stadt waren die Leute mit sich selbst beschäftigt, sie hatten keine Zeit, sich um ihre Nachbarn zu kümmern, und wenn sie Rechtsprobleme hatten, gingen sie zum Anwalt. Auf dem Land ließ man ihn kommen, sogar samstags. Wie man das vermied, hatte Schlüter noch nicht raus. Christa kam mit, um der Sache einen privaten Anstrich zu geben, und sie marschierten im warmen Südwind die Straße entlang, die man erst nach dem Krieg aus dem Schutt des zerbombten Hamburg gebaut hatte. Kater Gustav durfte nicht mit.
Schlichtmanns Hof lag drüben am Rande des Hochmoores. Die Engelsmoorer wohnten beidseits einer Straße, die zehn Kilometer von der Elbe entfernt in langen Schwüngen die ungefähre Grenze zwischen Marsch und Moor markierte. Die Gehöfte versteckten sich am Ende birkenbesäumter Wege, waren umgeben von drainierten Viehweiden und vereinzelten Ackerflächen. Der moorige Boden taugte wenig für die Ackerwirtschaft, man nutzte dafür die fetten Finger, die die Flussmarsch hier und da ins Moor streckte. Dorf konnte man die verstreuten Einsiedeleien nicht nennen.
Vor gut zweihundert Jahren hatte man den Kampf gegen das Wasser begonnen und das Moor kolonisiert. Mit hölzernen Spaten grub man steile Entwässerungsgräben, an ihren Rändern konnte man die Flora von Jahrtausenden lesen. Sobald der Sumpf ein nasser Schwamm geworden war, stach man
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