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Die Opferung

Die Opferung

Titel: Die Opferung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Masterton
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Das Schlafzimmer sah noch genauso aus wie bei meinem letzten Besuch. Von unten hörte ich die Standuhr elf Uhr schlagen.
    Die Schlafzimmertür stand einen Spalt offen. Ich schlich langsam weiter, stets darauf bedacht, möglichst keine Geräusche zu verursachen. Eines der Bretter knarrte leise unter meinem Gewicht, aber insgesamt war der Fußboden recht stabil. Mein Herz raste und ich atmete so heftig wie ein Seiltänzer. Es konnte durchaus sein, dass Brown Jenkin im Korridor nur auf mich wartete oder dass Kezia Mason meine Anwesenheit spüren konnte.
    Die Wände mit Samt bespannt, so schwarz, wie Sünde und so fein, hörte ich mich im Geiste sagen. Und kleine Zwerge kriechen raus ...
    Ich zog die Schlafzimmertür auf und blickte in den Korridor, in dem es noch viel dunkler war. Ich wartete und lauschte, bis meine Ohren vor Anstrengung schmerzten.
    In diesem Moment schälten sich aus der Dunkelheit erst eine kleine weiße Gestalt und dann weitere. Ich war so in Panik, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ich schaffte es nicht mal, mein Stemmeisen zu heben. Die Gestalten kamen immer näher, verursachten aber fast keine Geräusche.
    Zwerge, die aus dem Schrank entkommen waren, Geister, die ihrem Grab entstiegen waren. Oder ...
     

15. Die Wahrnung
    Die kleinen Gestalten kamen mir immer näher, und im fahlen Schein aus dem Schlafzimmer konnte ich erkennen, dass es sich um Kinder handelte, die lange weiße Nachthemden trugen. Ihre Augen waren von Erschöpfung und Unterernährung gezeichnet, ihre Haare waren zerzaust, aber sie waren weder Zwerge noch Geister, sondern einfach nur Kinder - zwei Mädchen und ein Junge.
    »Wer sind Sie?«, fragte eines der Mädchen mit dem gleichen Akzent wie Kezia Mason. Es war recht hübsch, aber so dünn, dass es schmerzte, das Kind anzusehen. »Ich habe Sie hier noch nicht gesehen. Weiß der Leiter, dass Sie hier sind?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich möchte auch nicht, dass er es weiß.«
    »Woher kommen Sie?«, wollte der kleine Junge wissen.
    »Brighton.«
    »Meine Mama ist mal mit mir im Zug nach Brighton gefahren.«
    »Du hast gar keine Mama«, warf das andere Mädchen ein.
    »Hab ich wohl. Sie ist mit mir mal nach Brighton gefahren. Dann bekam sie noch ein Kind und ist gestorben.« »Pscht!«, machte ich. »Wir wollen doch niemanden aufwecken, nicht wahr?«
    »Was machen Sie dann hier?«, fragte das erste Mädchen. »Sie sind doch kein Skinner, oder? Brown Jenkin mag keine Skinner.«
    »Was ist ein Skinner?«, erwiderte ich.
    »Sie wissen schon. Einer von den Ärzten oder Reverends, vor denen man sich ausziehen muss, damit sie einen angucken können.«
    »Nein, nein, ich bin kein Skinner. Ich suche nur einen Freund.«
    »Sie müssen aufpassen, damit Brown Jenkin Sie nicht erwischt«, warnte mich das zweite Mädchen.
    »Ich kenne Brown Jenkin«, erklärte ich ihr. »Ich kenne auch Kezia Mason.«
    »Wenn Sie Ihren Freund gefunden haben, werden Sie dann wieder fortgehen?«, wollte der kleine Junge wissen.
    »Oh, ja, ich werde mich direkt wieder auf den Weg machen.«
    »Würden Sie uns mitnehmen?«
    »Euch mitnehmen? Euch alle? Ich weiß nicht, aber ich glaube nicht, dass das geht. Warum eigentlich?«
    »Weil viele von uns sterben. Darum. Mr. Billings guckt dich an und sagt, dass du krank bist und dass du behandelt werden musst. Dann nimmt dich Brown Jenkin mit zum Picknick, und danach sieht dich niemand wieder, bevor du begraben wirst.«
    »Aber wir sind nicht krank«, erklärte das erste kleine Mädchen. »Mr. Billings gibt uns nicht viel Essen, immer nur Brot und Reste. Darum haben wir alle Hunger. Aber wir sind nicht krank. Nur Billy ist krank. Er hat Keuchhusten. Er hat immer Keuchhusten.«
    »Wie viele Kinder sind noch hier?«, fragte ich ihn.
    »Einunddreißig, aber Charity fehlt. Niemand weiß, was mit ¿Ar passiert ist.«
    Ich wusste natürlich, wo Charity war, sagte aber nichts davon. Ich war nicht hergekommen, um all diese East End-Gören aus Mr. Billings' Waisenhaus zu holen. Ich hatte weder Zeit noch die selbstlose Opferbereitschaft, das zu tun. Was als Versuch begonnen hatte, mehr über die Vorgänge in Fortyfoot House zu erfahren, entwickelte nun alle Kennzeichen der Herberge zur sechsten Glückseligkeit. Wenn ich nicht aufpasste, hätte ich bald einen Treck von Waisenkindern hinter mir und würde durch das Jahr 1886 ziehen.
    Im Augenblick ging es mir nur darum, Pickerings Leichnam unter den Fußboden hervorzuholen und fortzuschaffen.
    »Hört mal«, sagte ich

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