Die Opferung
wohin waren. Ich blickte nach unten auf den Boden der Kapelle und hinüber zu den leeren Fenstern und dem raschelnden Efeu. Es war schwer zu sagen, in welcher Zeit ich mich eigentlich befand.
»Ja«, erklärte ich. »Ich weiß nicht, was es ist, aber etwas stimmt wirklich nicht. Das ganze Haus ist seltsam. Es sieht schon seltsam aus, ist dir das aufgefallen? Es verändert ständig seine Form.«
Liz senkte den Blick. Ihre Haut hatte den unschätzbaren Glanz der Jugend, nur mit ein paar Sommersprossen gesprenkelt, so wie ein Hauch Zimt. »Wärst du sauer, wenn ich sagen würde, dass ich ausziehen möchte?«
»Willst du die Wahrheit hören?«
»Natürlich.«
»Okay, ich wäre sauer.«
Liz' Blick trübte sich, als erinnere sie sich an eine frühere ähnliche Begebenheit. Oder vielleicht sogar Dutzende Begebenheiten dieser Art. Sie war eine von diesen Frauen, die sich nie ganz einem Mann hingeben konnten. Sie war eine von diesen Frauen, die irgendwann in Selbstgespräche vertieft, einsam und mit Wärmflasche in irgendeinem Altersheim sterben würden. Scheiße, ich hasste es, darüber nachzudenken. Aber ich musste schon auf mich selbst und auf Danny aufpassen, ich konnte nicht auch für jeden anderen die Verantwortung übernehmen, schon gar nicht für eine Frau wie Liz und für die Toten wie den jungen Mr. Billings, Sweet Emmeline und Harry Martin — mein Gott, wie musste Harry gelitten haben.
Danny zertrat die Schindeln mit einem Geräusch, das so klang wie der Knorpel, der von Harrys Knochen gerissen wurde.
»Aber ...«, sagte ich dann, »falls du wirklich gehen möchtest.«
Lange Zeit sagte sie nichts. Dann schließlich: »Nein, nein, ich bleibe. Ich kann nicht mein Leben lang vor allem davonlaufen, das mir nicht passt.«
»Hör zu. Ich möchte nicht, dass du hier gezwungenermaßen bleibst. Oder aus Mitleid. Harry Martin wurde das komplette Gesicht weggerissen, also ist irgendetwas da oben auf dem Speicher. Egal, ob es real ist oder nur Einbildung oder was auch immer. Also bleib nicht, weil du Mitleid mit mir hast. Die Welt ist voll von allein stehenden Männern mit siebenjährigen Söhnen.«
»Ich möchte bleiben«, beteuerte sie.
»Nein, das sagst du jetzt nur. Geh! Es ist besser für dich!«
»Hör mal, nur weil ich mit dir letzte Nacht ins Bett gegangen bin ...«
»Das hat damit überhaupt nichts zu tun! Das schwöre ich! Wir waren beide fertig mit der Welt, wir waren müde und wir hatten beide etwas zu viel getrunken.«
»Also, mir hat es gefallen«, sagte sie spitz. »Mir hat es gefallen, und ich möchte mehr. Und darum werde ich bleiben.«
Trotz allem Schrecklichen, das geschehen war, schüttelte ich den Kopf und begann zu lachen. Worüber streiten Menschen, wenn es wirklich darauf ankommt? Liebe, Lust, Unsicherheit, Frustration und Angst. Mein alter Freund
Chris Pert sagte mal, dass ein Mann und eine Frau, die den gleichen Geschmack bei TV-Komödien und bei chinesischem Essen haben, in einer himmlischen Beziehung leben.
»Guck mal, Daddy. Blut«, sagte Danny.
Ich hörte sofort auf zu lachen. Danny stand auf der anderen Seite der Kapelle vor dem Wandgemälde der Frau mit dem roten wallenden Haar. Ich ging zu ihm, Liz folgte mir.
Die Frau zeigte ein exzentrisches Lächeln - freudig erregt, erotisch und eine ganz kleine Spur verrückt. Ihre Augen erschienen mir strahlender als zuvor. Doch das rattenähnliche Ding, das sie wie eine Stola um ihren Hals gelegt trug, machte mir Angst. Die Augen dieses Dings waren hämisch und triumphierend, und aus seinem Maul tropfte Blut.
Vorsichtig berührte ich das Blut mit meiner Fingerspitze.
»liihh«, sagte Liz und rümpfte die Nase.
Ich hob meinen Finger. »Es ist nicht frisch. Es ist nicht mal Blut, es ist bloß Farbe.«
»Die ist aber zuletzt nicht da gewesen«, sagte Danny.
»Nein«, musste ich ihm zustimmen. »Das war sie auch nicht. Vielleicht haben irgendwelche Kinder es aus Spaß hingemalt.«
Liz konnte ihren Blick nicht von der an die Wand gemalten Frau lösen. »Toller Spaß«, gab sie von sich. »Wen stellt das dar?«
»Ich weiß nicht, wir haben es erst gestern entdeckt. Es muss seit Urzeiten von dem Efeu verdeckt gewesen sein.«
Liz näherte sich dem Wandgemälde. »Wie bösartig diese Frau blickt«, flüsterte sie.
Ich schaute sie an. »Wieso sagst du das?«
»Keine Ahnung. Sieh sie dir doch an, sie ist so bösartig! Und dieses entsetzliche Rattending da um ihre Schultern!«
Wir betrachteten das Gemälde und gingen im Kreis durch
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